Die besten Comics des Jahres 2022: Erfrischend und reflektiert, hart und meisterhaft
Auch in diesem Jahr fragen wir unsere Leserinnen und Leser wieder, welches für sie die besten Comics der vergangenen zwölf Monate waren. Unter allen Einsendenden werden wertvolle Buchpakete verlost. Hier eine erste Auswahl der Ergebnisse und Informationen zu den Teilnahmebedingungen.
Parallel dazu ist wie bereits in den vergangenen Jahren wieder eine Fachjury gefragt. Die besteht in diesem Jahr aus zehn Autorinnen und Autoren der Tagesspiegel-Comicseiten: Barbara Buchholz, Christian Endres, Birte Förster, Moritz Honert, Lara Keilbart, Rilana Kubassa, Sabine Scholz, Ralph Trommer, Lars von Törne und Erik Wenk.
Die Mitglieder der Jury küren in einem ersten Durchgang ihre fünf persönlichen Top-Comics des Jahres, die in den vergangenen zwölf Monaten auf Deutsch erschienen sind. Jeder individuelle Favorit wird von den Jurymitgliedern mit Punkten von 5 (Favorit) bis 1 (fünftbester Comic) beurteilt.
Daraus ergibt sich dann die Shortlist, auf der alle Titel mit mindestens fünf Punkten oder mindestens zwei Nennungen landen. Diese Shortlist wird abschließend von allen acht Jurymitgliedern erneut mit Punkten bewertet – daraus ergab sich die Rangfolge der besten Comics des Jahres, die wieder kurz vor Weihnachten im Tagesspiegel veröffentlicht wird.
Die Favoriten von Tagesspiegel-Redakteur Moritz Honert
Platz 5: Bastien Vivès’ und Martin Quenehens: „Corto Maltese – Schwarzer Ozean“.
Über die Fortsetzungen der Comic-Reihe „Corto Maltese“, die Bastien Vivès’ und Martin Quenehens seit 2015 schreiben, lässt sich wenig Böses sagen. Höchstens, dass sie vielleicht doch etwas sehr berechenbar sind in ihrer Treue zur Vision von Erfinder Hugo Pratt.
Überaus erfrischend wirkte deshalb Bastien Vivès’ und Martin Quenehens Band „Schwarzer Ozean“, für den Corto Maltese in einer Art Otherworld-Szenario ins 21. Jahrhundert transferiert wurde. Die Zutaten – Exotik, Esoterik, Erotik – sind geblieben, aber trotzdem ist alles anders. Moderner, kühler, frischer – spannender.
Platz 4: Barry Windsor-Smith: „Monster“.
Lebenswerk muss man das wohl nennen, was Barry Windsor-Smith mit „Monster“ geschaffen hat. 35 Jahre arbeitete er an dem Wälzer, in dem nicht nur die Protagonisten, sondern auch er selbst mit den eigenen Dämonen ringt.
In hart schraffierten Bildern erzählt Windsor-Smith die Geschichte des jungen Robert Bailey, wie der Autor ein Kind der 40er Jahre. Der Vater, spät aus dem Krieg heimgekehrt, schlägt den Jungen zum Krüppel, die Mutter bleibt hilflos. Jahre später meldet sich Bailey zum Armeedienst und landet ausgerechnet bei der Einheit für experimentelle Medizin, in der auch schon sein Vater eingesetzt war.
Wie Winston-Smith hier klassischen Grusel – die Geschichte begann mal als Heft der Serie „Hulk“ – mit dem Schrecken des Krieges, Trauma und Tragödie vermischt, ist nicht nur zeichnerisch, sondern auch erzählerisch meisterhaft.
Platz 3: Anna Rakhmano und Mikkel Sommer: „Hinterhof“.
Dasa Hink ist Musikerin, Künstlerin – und Domina. Selbstbewusst und offen erzählt sie in Anna Rakhmanos und Mikkel Sommers Comic-Reportage „Hinterhof“ von ihrem Beruf, reflektiert über Männlichkeit, Selbstbestimmtheit, Feminismus und die Rolle von Sexarbeit in unserer Gesellschaft.
Ihren Monolog, der vielen Klischees widerspricht, untermalt Mikkel Sommer mit stimmigen, monochromatischen Bildern, oft Details oder Stillleben, die zwar mitunter explizit sind, aber trotzdem nie voyeuristisch oder gar bloßstellend.
Platz 2: Héctor Oesterheld / Hugo Pratt: „Ernie Pike“.
Es sind lakonische, an Norman Mailer und Hemingway geschulte Skizzen, die Héctor Oesterheld ab 1957 über seinen Kriegsreporter „Ernie Pike“ verfasst. Kurze Geschichten von seelisch wie körperlich versehrten, moralisch oft nicht eindeutig einzuordnender Menschen. Zu 34 davon entwarf der Comickünstler Hugo Pratt realistische Bildern, mit starkem Einsatz von Schatten und einem präzisen Blick für Details.
Die Themen der Geschichten sind Selbstlosigkeit, Aufopferung und Heldenmut. Glorifiziert wird hier jedoch nichts. Welche Folgen die mörderische Faszination für den Krieg hat, wird weder in Text noch im Bild ausgespart. „Es muss einen Ort geben, wo man diese aus Mut und Konflikten gestrickten Tragödien für die Menschheit festhält“, sagt Pike in der Geschichte „Zwei Freunde“. Oesterheld und Pratt haben ihn geschaffen. Das Ergebnis ist Zeitdokument und große Kunst
Platz 1: Julien Blondel, Julien Blondel, Jean-Luc Cano, Robin Recht, Didier Poli, Julien Telo, Jean Bastide: „Elric“
Es gibt Dinge, die wirken stärker, wenn man sie nicht ausbuchstabiert, wenn man sie der Phantasie der Leser überlässt. Und es gibt Fälle, wo erst die bildliche Darstellung die ganze Wucht und Abgründigkeit des Erzählten transportieren. Julien Blondels Comicadaption von Michael Moorcocks Fantasyepos „Elric“ ist so ein Fall.
Die meisterhaften Bilder von Zeichner Didier Poli, Tuscher Robin Recht und Kolorist Jean Bastide zeigen die Verkommenheit des Hofstaats auf der Insel der Drachen von Melniboné in einer Vehemenz und Drastik, die der Text des genreprägenden Fantasy-Klassikers allein gar nicht hatte: Orgien, Grausamkeiten, Schlachten, monströse Bauwerke, dazu Verrat, Tragik, Schmerz, Leidenschaft im Ausmaß nordischer Göttersagen.
„Elric“ ist ein Beispiel dafür, was das Medium Comic vermag, wenn wirkliche Könner sich seines bedienen: nämlich eine Vorlage nicht nur in eine Bildergeschichte zu adaptieren, sondern sie zu erweitern, ja, zu transzendieren.
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