Dirigent Riccardo Muti: Vom Meister lernen
Die vermeintlich einfachen Stellen sind die schwierigsten. Riccardo Muti feilt sprachlich ausgiebig alleine an drei Takten auf einem einzigen Ton. Das „Libera Me“ singen selbst berühmte Interpretinnen in der Regel falsch, sagt er, betonen „tremendae“, nichtsahnend, dass „illa“ mit seinem konkreten Bezug auf das Jüngste Gericht das wichtigste Wort in der Phrase ist.
In seiner achten Opernakademie im italienischen Ravenna arbeitet der Maestro mit dem Nachwuchs an Giuseppe Verdis Requiem. Eine Lektion für die fundamentalen Unterschiede zwischen den deutschen Romantikern und Verdi steht am Anfang: Brahms und Schumann schrieben ihre Requien als Trost für die Hinterbliebenen. Bei dem Agnostiker Verdi mischen sich dagegen in die Hoffnungen auf Erbarmen Zweifel und Angst vor dem Jüngsten Gericht. Aus den letzten beiden Worten „libera me“, mit denen das Werk endet, ist die Hoffnung bereits gewichen.
Hunderte Bewerbungen gingen ein
Die Proben sind gut besucht, viele im Publikum verfolgen die Lektionen des Maestros mit der Partitur auf den Knien. Am Vormittag arbeitet Muti mit Pianisten, deren Aufgabe es ist, die Sänger auf ihre Arbeit mit dem Orchester vorzubereiten, am Nachmittag mit den Dirigenten. Unter ihnen finden sich nicht nur Berufsanfänger.
Einer ist Andreas Ottensamer, Soloklarinettist der Berliner Philharmoniker. Schon in seinen Studienzeiten fuhr er zweigleisig, aber erst seit einiger Zeit juckt es ihn, verstärkt auch zu dirigieren. Seine Profunde Ausbildung ist dem gebürtigen Österreicher anzumerken, sehr souverän arbeitet er mit dem Orchester, ohne dass Muti ihn unterbrechen oder groß korrigieren müsste. Nur für den Beginn des gewaltigen Anfangs vom „Dies Irae“ nimmt Ottensamer dessen weisen Rat entgegen, im Viervierteltakt nicht konsequent auf Zwei zu schlagen, sondern die Zählzeiten dazwischen dezent anzudeuten. Das hilft dem Orchester.
Vor allem aber die Teilhabe an den facettenreichen, unbezahlbaren-, über fünf Jahrzehnte angesammelten Erfahrungen Mutis wertet Ottensamer als das Kostbarste, was er aus der Akademie mitnehmen kann. Muti kümmert sich schließlich um alles: Sprache, Farben, Ausdruck, Intonation, Dynamik, schwierige Einsätze und Probentechniken. Noch dazu gibt es nebenher viel Wissenswertes zu Musik- und Aufführungsgeschichte.
Dass Muti bei alledem nicht nur ein vorzüglicher Lehrer ist, der alles gut erklären und Probleme diagnostizieren kann, sondern obendrein ein sehr freundlicher, trägt gewiss auch zu seiner Beliebtheit bei. Auch diesmal gingen wieder Hunderte von Bewerbungen für die Opernakademie in Ravenna bei ihm ein. Am Ende kann er jeweils nur fünf Dirigenten und Pianisten auswählen.
Mit dabei ist eine Dirigentin aus der Ukraine
Viele Künstler, mit denen man in diesen Tagen ins Gespräch kommt, halten Muti ohnehin für den besten Dirigenten überhaupt. Der Bass Riccardo Zanellato zum Beispiel, ein langjähriger Weggefährte, der sich schon mehrfach für Mutis Opernakademien als Solist zur Verfügung stellte. Oder Valentina Benfenati, Konzertmeisterin des Luigi Cherubini Orchesters, die sich kaum vorstellen kann, was sie von der Zukunft erwarten soll, wenn sie schon zu Beginn ihrer Laufbahn bei dem genialen Verdi-Dirigenten eingestiegen ist.
Und nicht zuletzt die erst 21-jährige Dirigentin Polina Lebedieva aus der Ukraine, die sich als Assistentin der erfolgreichen Kollegin Oksana Lyniv ihre ersten Sporen verdienen konnte und von Muti als ihrem Lieblingsdirigenten spricht. Mutis geniale Anweisungen weiß sie schnell umzusetzen, so gelingt ihr insbesondere das „Sanctus“, von dem er sagt, dass es wegen der komplizierten Doppelfuge der schwierigste Teil im gesamten Requiem sei, mit der gewünschten Leichtfüßigkeit.
Mit der Chinesin Kerou Liu holt sich noch eine weitere selbstbewusste Jungdirigentin den letzten Schliff bei dem besten Verdi-Dirigenten. Nur bei seinen Exkursen tun sich Lücken auf, die den Lehrer schmerzen. Victor De Sabata, Antonio Guarneri, Artur Nikisch – die Elevin schaut ratlos ob der Namen. In solchen Momenten hilft nur der Humor: „Der sagt ihnen doch was oder?“, sagt Muti, und ohne die Antwort abzuwarten, fährt er fort: „Sagen Sie bitte einfach ja!“
Ein paar uncharmante Dinge sagt der penible Gigant auch über Sänger, insbesondere über Tenöre, die Dirigenten die letzten Nerven rauben könnten, wenn sie rhythmisch schwierige Stellen nicht so genau nehmen, an falscher Stelle atmen oder auf Kosten von sprachlichen Feinheiten mit stimmlichem Schmelz imponieren wollen.
Junge Stimmen, die überzeugen
Aber das sagt er mit einem Augenzwinkern und in Anerkennung dessen, was das versammelte junge vorzügliche Solistenensemble leistet. Ihnen allen dürfte eine große Zukunft bevorstehen: Juliana Grigoryan (Sopran) und Isabel de Paoli (Mezzosopran) gefallen mit ihren schlanken, warmen, schönen Stimmen noch besser als ihre berühmten Kolleginnen Krassimira Stoyanowa und Anita Rachvelishvili, die das Requiem 2019 unter Muti in Salzburg mit allzu starkem Vibrato sangen. Der albanische Tenor Klodjan Kaçan nimmt mit selten gehörten ätherischen Tönen für sich ein. Riccardo Zanellato, der Bass, ist freilich als langjähriger Weggefährte Mutis längst etabliert.
Nur an den rhythmisch vertrackten a cappella-Stellen verrutscht mehrfach die Intonation. Aber das kommt bei prominenten Sängerstars genauso oft vor, weiß Muti. Und erzählt dazu die Anekdote von einem Musiker, der ihm einmal den absurden Vorschlag unterbreitete, Verdi durch das Hinzufügen von Orchesterstimmen zu „verbessern“. All die Unsinnigkeiten, die er in seinem langen Leben über sich ergehen lassen musste, würden wohl Bücher füllen. Aber am Leben sei er immer noch, sagt der 81-Jährige lakonisch.
Am 15. Dezember endet die Akademie in Ravenna mit einer von Muti dirigierten Aufführung des Verdi-Requiems.
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