Hommage-Ausstellung für Jean-Jacques Sempé: Der zärtliche Strich des Menschenfreundes

Die Knaben sehen zufrieden aus. Brav in zwei Reihen aufgestellt, den Ball vor ihren Füßen, posieren die zehn Mitglieder einer Fußballmannschaft vor der Fotokamera ihres elften Mannes im Hof eines Mietshauses.

Erst auf den zweiten Blick fällt ins Auge: Sämtliche Glasfenster des Gebäudes sind zerschossen! Das stolze Lächeln auf den Gesichtern der Kinder kann nun ganz anders gedeutet werden.

Schelmischer Humor: Eine Zeichnung von Sempé aus dem Jahr 1956.
Schelmischer Humor: Eine Zeichnung von Sempé aus dem Jahr 1956.
© © J.J Sempé

Die von schelmischem Humor geprägte Schwarzweißzeichnung tauchte 1956 als Illustration in der französischen Zeitung „Sud Ouest Dimanche“ auf. Zwei Monate später verwendete der in Bordeaux lebende Zeichner die Idee erneut für ein Cover der belgischen Zeitschrift „Le Moustique“, zeichnete alles neu und kolorierte es.

Kindheitserinnerungen in idealisierter Form

Jean-Jacques Sempé war damals 24 Jahre jung, doch bereits ein begehrter Illustrator. Seinem Chef gefiel die Figur eines kleinen Jungen, den er öfters zeichnete, und brachte ihn mit dem gerade aus den USA zurückgekehrten Autor René Goscinny („Asterix“, „Isnogud“ u.a.) zusammen.

Die beiden verstanden sich auf Anhieb und schufen zusammen „Der kleine Nick“, eine Figur, in die sowohl der Zeichner wie auch der Autor Kindheitserinnerungen in leicht idealisierter Form einbrachten.

Jean-Jacques Sempé starb am 11. August dieses Jahres kurz vor seinem 90. Geburtstag. Eigentlich war die nun in der Fondation Folon nahe Brüssel eröffnete Ausstellung „Sempé – Infiniment vôtre“ als Geschenk an den Künstler anlässlich von dessen runden Geburtstag geplant. Daraus ist nun eine Hommage geworden, die sich seinem künstlerischen Vermächtnis widmet.

Der Kleine Nick ist die bekannteste Figur von Sempé, er schuf sie zusammen mit René Goscinny.
Der Kleine Nick ist die bekannteste Figur von Sempé, er schuf sie zusammen mit René Goscinny.
© © Imav éditions Goscinny-Sempé © J.J. Sempé

Mit 120 Exponaten aus der Sammlung von Sempés Witwe Martine Gossieaux, die in Paris eine Galerie betreibt, möchte die Ausstellung (kuratiert von Direktorin Stéphanie Angelroth und ihrem Team) alle wichtigen Facetten seines Oeuvres vorstellen.

Die Fondation Folon liegt in La Hulpe südöstlich der belgischen Metropole und ist ein echter Geheimtipp, der einen Ausflug lohnt. In ihr beheimatet ist das Werk des besonders in Frankreich und der Wallonie (der französischsprachigen Region Belgiens) populären Künstlers Jean-Michel Folon.

Vom Comic zum Cartoon

Er selbst konzipierte das ihm gewidmete Museum, das sein surrealistisches, poetisches Werk in einer Dauerausstellung multimedial präsentiert – Gemälde, Skulpturen, Filme und Installationen um seine berühmteste Figur, den „Blauen Mann“, und andere Werke wurden in die Architektur eines früheren Landhauses auf bezaubernde Weise integriert. Daneben laufen Wechselausstellungen, die in der Vergangenheit schon Comiczeichnern wie Peyo („Die Schlümpfe“) und Hugo Pratt („Corto Maltese“) gewidmet waren.

Sempés bekannteste Schöpfung bleibt der „Kleine Nick“. Zunächst noch als jeweils einseitige Comic-Gagstrips für „Le Moustique“ konzipiert, hatte die Serie nur mäßigen Erfolg. Erst 1957, in Form von kurzen Erzählungen für „Sud Ouest Dimanche“, die bald in Buchform gebündelt wurden, entwickelte sich „Le Petit Nicolas“, wie er im Original heißt, zum großen Erfolg. Bis heute begeistert er Kinder wie Erwachsene in 45 Ländern.

Der 1932 bei Bordeaux in einfachen Verhältnissen geborene Jean-Jacques Sempé probierte die Kunstform Comic nur kurz im Rahmen seiner Nick-Geschichten aus, um festzustellen, dass der pointierte Cartoon (ein in einem Bild bzw. seltener in einer kurzen Bilderfolge erzählter Witz) und die Illustration als Formate seinem Talent mehr entsprachen.

Ein Blick in den Eingangsbereich der Ausstellung.
Ein Blick in den Eingangsbereich der Ausstellung.
© © Imav éditions Goscinny-Sempé © J.J. Sempé © Xavier Janssens-Fondation Folon © J.J Sempé

Die Ausstellung erstreckt sich über fünf Räume – speziell für Wechselausstellungen ausgebaute frühere Speicherräume des ehemaligen Gutshofs -, die auf beeindruckende Weise Sempés vielfältiges Schaffen und seine Entwicklung aufzeigen. Sind die ersten Cartoons noch weitgehend den Konventionen des flächigen Cartoonstils der 50er Jahre verhaftet, so entwickelt Sempé sehr früh seinen unverkennbar „leichten“ Strich, der sich durch feine Tuschefeder-Linien und ein ausgeprägtes Talent für Bildkompositionen auszeichnet.

Zusammenarbeit mit Patrick Modiano und Patrick Süskind

Neben der Zusammenarbeit mit René Goscinny ergaben sich weitere fruchtbare künstlerische Partnerschaften für Sempé mit Schriftstellern wie Patrick Modiano („Catherine, die kleine Tänzerin“, 1988) oder Patrick Süskind („Die Geschichte von Herrn Sommer“, 1991) – allesamt Werke, deren ganzer Esprit sich erst im Zusammenspiel mit Sempés Zeichnungen entfaltet.

Das Postermotiv zur Ausstellung ist ein Titelbild für die Zeitschrift „The New Yorker“.
Das Postermotiv zur Ausstellung ist ein Titelbild für die Zeitschrift „The New Yorker“.
© ©Fondation Folon © J.J Sempé

In den ausgestellten, oft großformatigen Originalblättern offenbart sich die ganze Qualität von Sempés Zeichenkunst: Die Darstellung des unermüdlich umherwandernden Herrn Sommer etwa, der ungeachtet des Wetters und ohne erkennbares Ziel wie ein Getriebener übers Land schreitet, ist ungeheuer fein gezeichnet und auch farblich extrem nuanciert gearbeitet.

Die Aquarellmalerei hat Sempé erst spät für sich entdeckt und eine eigene, verwischende Technik entwickelt, die die feinen Tuschelinien perfekt ergänzt oder überdeckt und so impressionistische Stimmungen hervorzaubert.

Ab den 60er Jahren entwickelt Sempé eine eigene Form der Konzept-Bücher, großformatige Alben, in denen seine Cartoons seitenfüllend (manchmal sich auch über Doppelseiten erstreckend) abgedruckt werden und sich dabei stets einem übergeordneten Thema widmen.

Allein die Titel bezeugen Sempés Talent für Sprachspiele, zugespitzte Formulierungen oder Doppeldeutigkeiten. „Von Höhen und Tiefen“ („Des Hauts et des Bas“, 1972) etwa, in dessen Cartoons er Größenverhältnisse ins Zentrum stellt: Riesige Gebäude einer Stadt werden ameisenhaften Menschen gegenübergestellt, die sich als Masse formieren. In einem Bild marschiert eine Masse Demonstrierender mit austauschbaren Fahnen (ein Slogan darauf lautet: „Wir werden handeln“) auf. Daneben, und daraus zieht der Cartoon seinen Witz, marschiert ein einzelnes Männchen, eine Fahne schwenkend mit der Aufschrift „Ich auch!“.

Ein weiteres „New Yorker“-Cover aus dem Jahr 2014.
Ein weiteres „New Yorker“-Cover aus dem Jahr 2014.
© ©Fondation Folon © J.J Sempé

Subtile Gesellschaftskritik zeichnet diese Werke aus, in denen die Neigung des Menschen zum Opportunismus zum Ausdruck kommt, Sempé legt auch mal die Absurdität der Politik bloß (in: „Kleine Abweichung“, 1978): Während sich auf einem riesigen Platz eine wimmelnde Masse versammelt, um einen Politiker sprechen zu hören, wirft dieser ihnen entgegen : „Ich habe nichts hinzuzufügen, was ich nicht schon gestern im Fernsehen gesagt habe.“

Liebevoller Blick auf menschliche Schwächen

Das visuelle Spiel mit Dimensionen, Größen und Gegensätzen greift Sempé immer wieder auf. Auch der – schwer übersetzbare – Ausstellungstitel „Infiniment vôtre“ (etwa: „Unendlich der Ihre“) spielt mit dem Wort „unendlich“ darauf an, weist aber auch auf Sempés respektvollen Umgang mit dem Mensch und den Lesenden hin.

Sempés Blick auf die menschliche Spezie ist, bei aller Schärfe, die gelegentlich aufblitzt, einfühlsam und liebevoll. Menschliche Schwächen thematisierte er oft, doch mit einer unverwechselbaren Zärtlichkeit.

In einem zehnteiligen Bilderzyklus aus dem Band „Vaguement Compétitif“ (dt. „Halb gewonnen“, 1986) zeichnet er in elliptischen Sprüngen eine ältere, in einem Sessel sitzende Frau, die durch ihr Fenster beobachtet, wie eine junge Frau in der Wohnung gegenüber einzieht. Diese gründet eine Familie, trennt sich und sitzt schließlich, gealtert, in einem Sessel – genau wie die inzwischen verschwundene alte Dame zu Beginn.

Ein anderer Zyklus, Teil des Buches „Saint Tropez“ (1968), zeigt, wie eine Gruppe von Handwerkern ein Haus baut, dabei perfekt als Gemeinschaft funktioniert, arbeitet und in Pausen miteinander schwatzt, isst und trinkt. Das letzte Panel zeigt das fertige Anwesen: Eine reiche Sippe sitzt gelangweilt und sprachlos am Pool.
Sempé bleibt trotz deutlicher Kritik stets sanft: „Ich betrachte die menschliche Gattung. Ich urteile nicht. Niemals.“ Ein späteres „Saint Tropez“-Motiv von 2010 führt Sempés mittlerweile hochelegante, rhythmische Linienführung vor Augen, wenn er die Tanzenden als vibrierende Masse inszeniert.

Neben seinen Buchprojekten blieb Sempé stets ein gefragter Magazin-Illustrator und Cover-Artist. Einen Höhepunkt in seinem Schaffen – und in der Ausstellung – stellen seine Cover für „The New Yorker“ dar. Für das renommierte Magazin schuf er seit 1978 insgesamt 112 Titelzeichnungen.

Dieses Bild zierte 1999 ein Cover des „New Yorker“:
Dieses Bild zierte 1999 ein Cover des „New Yorker“:
© © J.J Sempé

Neben hinreißend idyllischen Großstadtdarstellungen von Paris, die ganz auf Stimmungen setzen und auf Pointen verzichten, sind zahlreiche Cover zu finden, die ausschnitthaft und zugleich überhöht das Leben in New York darstellen. Ob ein winziger Angestellter mit seiner Aktentasche, der unbeeindruckt an der riesigen Skulptur einer Tänzerin im Park vorbeimarschiert, oder eine rührende, bunt gekleidete Frau auf einem Fahrrad mitten auf einer verkehrsreichen Avenue zwischen Wolkenkratzern – Sempé findet poetische und nicht selten philosophische Bilder des ganz alltäglichen Wahnsinns.

Die abwechslungsreich gestaltete und durchweg amüsante Ausstellung versammelt eine exquisite Auswahl aus dem Werk eines bedeutenden zeichnenden Poeten.

Sempés populärster Figur, dem „Kleinen Nick“ und dessen Freunden kann man auch hierzulande bald wiederbegegnen, wenn am 1. Dezember ein neuer, gelungener französischer Animationsfilm startet („Der kleine Nick und das große Glück“). Auf inspirierte Weise zitiert der Film Sempés Zeichenstil und verzichtet dabei (im Gegensatz zur misslungenen TV-Serie) wohltuend auf 3D-Animation.

Inhaltlich verwebt der Film typische Nick-Episoden in der Familie, Schule und in den Ferien mit der wenig bekannten Entstehungsgeschichte der Kinderbuchreihe. René Goscinnys und Jean-Jacques Sempés Freundschaft steht dabei im Zentrum: Sie treten als handelnde Figuren auf, die mit ihrem kindlichen Helden wie selbstverständlich parlieren.

Dazu erschienen ist bei Diogenes das gleichnamige Buch zum Film (128 Seiten, 18 €) von Anne Goscinny, der Tochter Renè Goscinnys, die auch das Drehbuch mitverfasst hat. Der im Grunde schüchterne Sempé flog einst wegen Randalierens von der Schule. Er wurde einmal gefragt, ob er eines Tages erwachsen geworden sei. Er antwortete: „Ich fürchte, nicht sehr…“

Sempé – Infiniment vôtre. Bis 15. Januar 2023. Fondation Folon, Drève de la Ramée 6A, 1310 La Hulpe, Di-Fr 9-17 Uhr, Sa-So 10-18 Uhr geöffnet. Eintritt: 15/11/5 € (www.fondationfolon.be).

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