Kinder- und Jugendbuch „Holly im Himmel“: Turbulentes Jenseits
Die Geschichte von „Holly im Himmel“ beginnt friedlich: Holly träumt, dass sie fliegt. Solche Träume sind selten, sie stehen für Freiheit und das Gefühl, dass man etwas, das beendet ist, loslassen kann. Dass das, was Holly an diesem Tag beenden soll, ihr physisches Leben ist, ist beinahe unvorstellbar.
Holly ist zehn Jahre alt, sie sprüht vor Lebensfreude – und hat viel zu tun. Zum Beispiel will sie heute ihre Mutter Astrid wieder mit dem netten, depressiven Vater zusammenbringen und den neuen, nervigen Freund der Mutter, Uwe, endlich verscheuchen. Doch es kommt alles ganz anders und plötzlich ist Holly tot. Die Katastrophe, das „Ende“, ist eingetreten, da befindet man sich gerade mal auf Seite 35. Die eigentliche Geschichte von „Holly im Himmel“ fängt jetzt erst an.
Der Tod ist das Schlimmste, was passieren kann – oder? Wie geht es nach dem Sterben weiter? Während Holly in der Vorhalle des Himmels über die vielen verschiedenen Menschen und Tiere staunt, die frisch verstorben angekommen sind, stellt sie fest, dass sie schon viel im Leben gelernt hat, aber nichts darüber, was passiert, wenn man stirbt. „Kein Wort, als ob noch nie jemand gestorben wäre.“
Holly vermisst ihre Familie, vor allem ihre Mutter. Zum Glück trifft sie bald das Mädchen Frida. Die ist schon seit 100 Jahren hier und kennt sich bestens aus im Himmel. Von ihr erfährt Holly, dass sie als Engel zur Erde zurückkehren kann. Doch seit Diktator Bortel die Macht übernommen hat, ist die Engelschule geschlossen und eine Reise zur Erde scheint unmöglich. Mit viel Leichtigkeit und glaubhaft aus der Sicht eines Kindes erzählt Micha Lewinsky vom Tod eines zum Sterben noch viel zu jungen Menschen.
Die Angst vor dem großen Unbekannten hat in diesem Buch keine Chance
Micha Lewinsky gelingt es scheinbar spielend, dem Tod sozusagen ins fiktionale Auge zu blicken. In der Eindrücklichkeit der Handlung und der liebevollen Charakterisierung der Figuren erinnert das Buch ein wenig an John Greens Bestsellerroman „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ über die 16-jährige krebskranke Hazel.
Statt in der Schwere des Themas abzutauchen, stellt der Autor den traurigen und im wahren Leben vielleicht unerträglichen Szenen immer wieder Momente der Freude oder der Situationskomik gegenüber. An wenigen Stellen wirkt die Komik für Erwachsene vielleicht etwas sehr klischeehaft, doch für junge Leser:innen funktioniert der Humor noch perfekt – auch, um ihnen die Angst vor dem großen Unbekannten zu nehmen.
Fast nebenbei spielen in „Holly im Himmel“ auch andere Themen eine Rolle. Zum Beispiel die Trennung der Eltern und die Depression in der Familie – genauso gut aber auch Freundschaft, Liebe und Lebensfreude. Nebenbei werden ein paar Seitenblicke auf Politik und Geschichte geworfen. Auf der Metaebene handelt das Buch vom Erlangen der Eigenständigkeit, des Großwerdens und der unausbleiblichen Trennung von der Mutter. Belehrend soll das Buch aber nicht sein, so Lewinsky in einem Interview. „Es würde mich aber sehr freuen, wenn das Buch tröstet. Wenn es Mut macht. Und vielleicht, das wäre wundervoll, wenn es Lust macht zu leben.“
Lewinsky lebt in Zürich. Seine Filme wurden mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem Schweizer und dem Zürcher Filmpreis. Für Kinder schrieb und produzierte er die Schweizer Kinderlieder-Alben „Ohrewürm“. Sein turbulentes Abenteuer hat stellenweise etwas von einem Film. Lewinsky lässt viel Raum für innere Bilder. Begleitet wird die Erzählung von den Illustrationen des Künstlers und Cartoonisten Lawrence Grimm.
Der Name „Holly“ bedeutet „die Glückliche“ oder „die Freie“ und erinnert an das englische Wort „holy“ (heilig). Da liegt es nahe, dass die Erzählung ihren Höhepunkt am Weihnachtsfest findet –zu der Zeit, wenn im christlich geprägten Kulturkreis die Trauer um Verstorbene oder die Trennung der Eltern besonders schmerzen können. Doch mit Holly gibt es keinen Stillstand, nicht einmal im Tod. Das Leben geht auch für ihre Mutter Astrid weiter, die in ihrer Trauer fast sich selbst verliert, und für den kleinen Bruder Timi, der lange nicht mehr froh sein konnte.
Micha Lewinsky: Holly im Himmel.
Roman. Diogenes, Zürich 2022.
272 Seiten, 14 €.
Ab zehn Jahre
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