Endzeit-Comic „Simon vom Fluss“ : Zwischen Natur und Apokalypse
Ein hochgewachsener junger Mann mit langen blonden Haaren und dunklem Bart durchwandert ein gewaltiges, schneebedecktes Gebirge. Einzig seine braune Felljacke bewahrt ihn vor der Kälte. Als unvermittelt eine Gruppe von Reitern auftaucht, nimmt diese ihn gefangen und bringt ihn in ihr Dorf. Doch Simon – so heißt der Wanderer – hat Glück gehabt, denn er ist an den Clan der Zentauren geraten, eine friedliche multiethnische Gemeinschaft von Nomaden, die ähnlich nordamerikanischen indigenen Stämmen von der Jagd lebt und in Zelten wohnt.
Simons Fesseln werden bald gelöst. Er wird vom Clan akzeptiert, nimmt an ihren Ritualen teil. Die wahren Feinde aus den sogenannten „Zentren“ sind militärisch hochgerüstet und werden den friedlichen Clan bald mit futuristischen Flugzeugen und Panzern beschießen…
Archaik und Westernkulissen treffen auf Science-Fiction – der französische Zeichner Claude Auclair (1943-1990) schuf die Serie „Simon vom Fluss“ ab 1973 für das belgische Comicmagazin „Tintin“. Hierzulande erschien sie auch unter dem Titel „Simon – Zeuge der Zukunft“.
Nahe der Atlantikküste in der Bretagne aufgewachsen, entwickelte der junge Auclair eine starke Liebe zur Natur. Einige Jahre später versuchte sich der noch unbekannte Zeichner vor allem im Science-Fiction-Genre und veröffentlichte erste kurze Comics in französischen Fanzines wie „Comics 130“, „Underground Comix“ oder „Fiction“.
Doch erst mit „Simon vom Fluss“ fand er seinen eigenen, realistisch gehaltenen Zeichenstil und vor allem auch seinen typischen, eindringlichen Erzählton, der die Serie bis zu ihrem Abschluss im Jahr 1989 prägen sollte.
Eine neue Ausgabe im Verlag Cross Cult bringt nun die Abenteuer Simons vom Fluss erstmals komplett auf Deutsch heraus. Denn die erste Geschichte „Die Ballade des Rotschopfs“, die im Gegensatz zu den späteren farbigen Alben als schwarzweiße Publikation konzipiert war, wurde lange aufgrund eines Rechtsstreits nicht mehr aufgelegt.
Dabei ist die Geschichte, die von einem Roman des Schriftstellers Jean Giono („Das Lied der Welt“) inspiriert war, schon eine äußerst starke Erzählung, in der der an einem namenlosen Fluss lebende Simon eingeführt wird.
Der früh verwaiste Einzelgänger – optisch erinnert er an den jungen Robert Redford in seiner Westernrolle des „Jeremiah Johnson“ von 1972 – mausert sich darin bald zum selbstlosen, jedoch nicht übermenschlich-heroischen Kämpfer für Gerechtigkeit in einer archaischen Welt, die durch globale Konflikte zivilisatorisch weit zurückgefallen ist.
Eine aristokratische Kaste, die die „Herren“ genannt wird, herrscht in den Resten einer früheren Stadt über die Landbevölkerung, die von einem jungen Rotschopf zur Revolution geführt wird. In „Die Sklaven“ (dem dritten Album, der Nachfolgegeschichte des „Clan der Zentauren“) werden frei lebende Völker wie die Zentauren versklavt und für eine zunächst anonym bleibende totalitäre Staatsmacht (die „Zentren“) zu harter körperlicher Arbeit in Stahlwerken gezwungen.
Die Kriegsszenen wie auch die Szenen im Stahlwerk gelingen Auclair sehr eindringlich und erinnern ebenso an die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts wie an den aktuellen Krieg in der Ukraine.
Die Sklaven im Stahlwerk wirken nicht zufällig durch ihre abgemagerten Körper und kahlrasierten Köpfe wie Opfer des Holocausts. Claude Auclair wurde geprägt von der Nachkriegs- und der 68er-Zeit. In einer vierseitigen Rückblende im „Clan der Centauren“ lässt er einen Zeitzeugen die Entwicklung der letzten Jahrzehnte nacherzählen: Auf die Proteste gegen den Vietnamkrieg folgten die Ölkrise und globale kriegerische Konflikte, die eine neue Weltordnung schufen – und damit neue Ungerechtigkeiten.
Zur Zeit ihrer Entstehung markierten Claude Auclairs Comics im Kinder- und Jugendmagazin „Tintin“ einen Wendepunkt hin zu ernsten, erwachseneren Geschichten. Die Geschichten um „Simon vom Fluss“ berühren auch heute noch durch ihre dichte Erzählweise, die in ihrem Realismus glaubwürdigen Zeichnungen wie durch ihre zeitlose humanistische Botschaft für eine friedlichere Welt.
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