Vollverglaste Tristesse
Franz und Marie sind im Pandemie-Lockdown aufeinander geworfen. Okay, das Problem teilen sie mit Millionen anderer Paare. Aber für die zeitgeistigen Wiedergänger aus Georg Büchners „Woyzeck“, die sich in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in einem schicken Apartment hinter vollverglaster Fensterfront auf die Nerven fallen, stellt die Situation tatsächlich eine besondere Herausforderung dar. Ihre Beziehung ist eigentlich schon vorbei – jedenfalls von Seiten Maries. Die junge Regiehospitantin hatte sich bei präpandemischen „Woyzeck“-Proben in den Hauptdarsteller verliebt. Nachdem sie ungewollt schwanger geworden war und einen Abbruch – also eine, um im Vokabular des Titels zu bleiben, Interruption – hatte vornehmen lassen, ist ihr der Mann unheimlich geworden. Abgesehen davon, dass Franz – wie bei Büchner – Stimmen hört, hat er nämlich ein „handfestes“ Grenzüberschreitungsproblem. Handlungen, die Marie längst als verbale oder körperliche Übergriffe empfindet, gehören für ihn selbstverständlich zum Beziehungsalltag.
Regisseur Amir Reza Koohestani und die Dramatikerin Mahin Sadri nehmen das 1879 erschienene und 1913 uraufgeführte Sozialdrama „Woyzeck“ in ihrer zeitgenössischen Überschreibung zum Anlass, sich mit dem Tatbestand des Femizids auseinanderzusetzen. Sie suche, so der Programmzettel, „nach den genderspezifischen Machtverhältnissen und der strukturellen Gewalt im Privaten“.
[„Woyzeck Interrupted“, Deutsches Theater, nächste Vorstellungen am 25 und 26. September]
Während der Protagonist bei Büchner, in heutigen soziologischen Termini gesprochen, quasi zum Dienstleistungsprekariat gehört und mehreren hochgradig demütigenden und zudem gesundheitsschädigenden Teilzeitjobs nachgeht, gibt sich Koohestanis und Sadris Franz als typischer Repräsentant des Bobo-Milieus mit Sugardaddy-Allüren. Er lässt die aufstrebende Hospitantin mietfrei bei sich wohnen und knüpft daran unausgesprochene Gegenleistungserwartungen. Die bei Büchner stark handlungsmotivierende soziale Frage wird hier also, zumindest, was Franz betrifft, komplett ins Psychologische verschoben – und der Fokus außerdem von ihm auf Marie verlegt.
Im Frühstadium des Lockdowns
Im Zuschauerraum hat man das schnell verstanden. Schließlich wird es – das Stück spielt wie gesagt im Frühstadium des Lockdowns – wiederholt ausführlich in Online-Sprechstunden zwischen Franz und seinem Therapeuten – beziehungsweise in digitalen Talks zwischen Marie und einer Freundin – erörtert. Der Sprachstil folgt dabei dem Sound der Netflix-Serien, die Franz und Marie in ihrem Lockdown-Koller konsumieren. Das ist sicher realitätsnah, dafür rumpelt es dann aber eben auch umso gewaltiger, wenn die beiden Figuren plötzlich anfallartig von Büchner-O-Tönen heimgesucht werden und Sätze wie „Du bist hirnwütig“ in die tagesaktuelle Paartristesse platzen.
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„Woyzeck Interrupted“ gehört zu jenen Inszenierungen, die während des Pandemie-Lockdowns geprobt wurden, ursprünglich also schon vor Monaten herauskommen sollten und jetzt eine verspätete Premiere erleben. In diesem speziellen Fall gab es im vergangenen Dezember allerdings schon eine Livestream-Premiere.
Verglichen damit sind wirklich starke Vorteile fürs theatergenuine Präsenz-Format zu verzeichnen. Denn wenn man dem intendierten Trübsinn dieser ausgeläpperten Beziehung hier dennoch mit Spannung zusieht, liegt das an den schauspielerischen Leistungen von Lorena Handschin und Enno Trebs. Ihnen gelingt das Kunststück, aus Marie und Franz im Lockdown deutlich mehr Facetten herauszuholen als (mutmaßlich) Millionen anderer Paare.