Schrei am Fjord

Das steht es nun, das neue Munch-Museum am ehemaligen Containerhafen, ein Architektur gewordenes Ausrufezeichen, und schreit hinaus in den Fjord – natürlich „Munch“. Und als würde das Gebäude, zumindest der Schriftzug an der Fassade, die Schallwellen dieses Rufes visuell aufnehmen, sind die fünf Buchstaben des Namens schräg nach links gekippt.

Der neue nationale Kulturbau Norwegens macht sich mit Wumms und 13 Stockwerken, 58 Meter Höhe insgesamt, im Zentrum der Hauptstadt bemerkbar. Es lässt schon von außen keinen Zweifel daran, dass der mit gelochtem Aluminiumblech verkleidete Turm dem berühmtesten Künstler des Landes gewidmet ist und sich darin außerdem sein bekanntestes Werk befindet: „Der Schrei“, die norwegische Mona Lisa.

Ein Tauziehen, eine zermürbend lange Entstehungszeit seit dem Wettbewerb 2009 und dem Baubeginn sechs Jahre später, hat mit der Eröffnung ein Ende gefunden.

Noch ist die Reihe neuer Kulturbauten, mit denen Oslo als touristische Destination an die anderen Hauptstadte Europas aufschließen will, nicht abgeschlossen – im nächsten Jahr kommt ebenfalls am Wasser das gigantomanische Nationalmuseum hinzu.

Aber mit Munch gleich neben der 2008 eingeweihten Oper ist für die Transformation des ehemaligen Industriegeländes das bis weit in die Bucht sichtbarste Zeichen gesetzt. In den letzten Jahren kamen als weitere Teile des Großprojekts „Fjordbyen“ (Stadt am Fjord) zahlreiche Hochhaus-Wohnbauten hinzu, „Barcode“ genannt, die durch ihre schlanke Form aus der Ferne wie Streifencodes wirken.

Das Quartier war einst sozialer Brennpunkt

Die Stadt erfindet sich hier neu, auch die Deichmann-Bibliothek, die größte und älteste des Landes, hat in der City einen gewaltigen Neubau erhalten. Sie wird von den Osloern bestürmt. Nur bei Munch machen sich Sozialdemokraten alter Schule Sorgen, dass das 200 Millionen teure Museum zu exklusiv sein könnte durch das immer teurer werdende Ambiente.

Das Quartier war einst sozialer Brennpunkt. Bestätigt werden die Ängste zunächst nicht, wie in alle neuen Museen strömen die Scharen, 115 000 Besucher kamen in den ersten vier Wochen.

Die Fahrstuhlfahrt in den 13. Stock zur Aussichtsplattform und dem Panoramarestaurant ist allerdings frei. Von dort hat man einen spektakulären Blick in den Fjord. Schwindel mag manchen befallen, wenn er sich dort weit nach vorne lehnt, ebenso bei den schrägen Fensterscheiben der drei darunterliegenden Etagen.

Die obersten Geschosse kragen nach oben immer weiter vor und erwecken dadurch den Eindruck, der ganze Bau würde nach vorne knicken. Auch darin lässt sich eine Reverenz an Munchs Bild „Der Schrei“ erkennen. Eine Panikattacke, die er bei einem Spaziergang entlang der Bucht bei Sonnenuntergang erlebte, soll ihn zu dem Motiv inspiriert haben, berichtete er später: „Ich stand allein, bebend vor Angst. „Mir war, als ginge ein mächtiger Schrei durch die Natur.“

Lauter tolle Ausstellungen

Die quasi Verbeugung des Gebäudes ist auch schon die einzige Extravaganz der ansonsten eher uninspirierten Architektur des spanischen Büros Estudio Herreros, das eher überraschend den Wettbewerb gewann. Vom Konzept her sind einfach elf Ausstellungsboxen übereinander gestapelt, die Geschoss für Geschoss durch vorgelagerte Rolltreppen erreichbar sind.

Wie beim Centre Pompidou in Paris sind die gleitenden Auf- und Abwärtsbewegungen der Besucher von außen sichtbar, die Metapher Museumsmaschine wird wieder bedient. Wer aber in den Organismus einmal hineingelangt ist, erlebt zur Eröffnung lauter tolle Ausstellungen.

Munch ist einer der ganz Großen der Kunstgeschichte, den Beweis tritt das Museum locker an, mit 26 313 Quadratmetern ist es nunmehr das weltweit größte, das sich einem Einzelkünstler widmet.

Es schöpft aus den Vollen, denn Munch hinterließ seiner Heimatstadt den Großteil seines Nachlasses. Heute besitzt das Museum 26 700 Gemälde, Drucke, Zeichnungen, Fotografie und Aquarelle aus der Zeit zwischen 1873 und 1944. Munchs einzige Bedingung lautete: Die Werke sollten angemessen präsentiert werden.

Doch erst zu seinem 100. Geburtstag 1963 wurde im östlichen Stadtteil Toyen ein eigenes Museum fertig, das abgelegen viel zu wenige Besucher fand und sich 2004 auch noch den „Schrei“ stehlen ließ, der zum Glück zwei Jahre später zurückkehrte.

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Selbst die vor zwei Jahren vom Schriftsteller Karl Ove Knausgård kuratierte Ausstellung mit unbekannten Werken aus dem Depot demonstrierte, dass das Museum am alten Standort weit unter seinen Möglichkeiten blieb.

Das ändert sich nun bravourös. Die Hauptausstellung im dritten Stock zu Munchs über Jahrzehnte zusammengestellten Album „Baum des Wissens“ mit Zeichnungen, Grafiken und mit Buntstift geschriebenen Texten saugt den Besucher förmlich hinein.

Wie Geäst sind die Stellwände etwa zu den Themen „Liebe“, „Tod“, „Gender“ platziert, die Munch Zeit seines Lebens umkreiste. „Alles ist Leben“ lautet eine Zeile aus dem Konvolut, das vom Künstler nie veröffentlicht wurde und für die Kuratoren bis heute ein Mysterium darstellt.

Fasziniert folgt man Munchs Leidenschaft, Verzweiflung. Über Jahre variierte er seine Motive: den „Schrei“, Madonnen, die Spermien als Aureole umfließen, eine Frau, die sich über den Nacken eines Mannes beugt, in dem unschwer der Künstler selbst zu erkennen ist. Mal küsst sie ihn, mal saugt sie ihn aus wie ein Vampir. Das Allerheiligste des Museums, den „Schrei“, der als Gemälde, als Pastell-Vorstudie und Grafik ausgestellt ist, gibt es in einem abgedunkelten Einbau zu sehen.

Alle halbe Stunde wird darin der Blick auf eine andere der drei Versionen freigibt, um sie vor zu viel Licht zu schonen. Einen intimen Moment mit der Kunst beschert die Schatzkammer trotzdem nicht, denn wie bei der Mona Lisa im Pariser Louvre stehen jedes Mal Besucher mit gezücktem Handy davor.

In Berlin hatte Munch seinen internationalen Durchbruch

Spektakulär ist der Gigantensaal mit den monumentalen Entwürfen für die Aula der Osloer Universität. Munch wollte hier die ganze Menschheit und ihr Werden erfassen. Eine riesige Sonne geht über einer Bucht auf und versetzt durch ihre Kraft die Felsen in Schwingung, ihre Strahlen ergießen sich bis zum Betrachter.

Zu den größten Überraschungen gehören die bildhauerischen Arbeiten des Künstlers, der das Motiv des „Menschenbergs“ – Leiber, die sich dem Licht entgegenstrecken – auch in Gips formte. Und noch eine Überraschung in der nächsten Ausstellung: Munch war auch Fotograf, 1902 erwarb er seine erste Kamera und experimentierte mit Selbstporträts – als einer der ersten Künstler, wie das Museum mit Stolz vermerkt.

Zugleich filmte er. Mitten in Oslo kommt einem plötzlich die Tram auf dem Leipziger Platz entgegen, Ende des 19. Jahrhunderts verbrachte der Maler wichtige Jahre in Berlin, hier hatte er seinen internationalen Durchbruch.

Zum übernommenen Nachlass gehören neben Palette und Pinseln außerdem Möbel, Kleidung, Hüte, Gemälde der Vorfahren. Der Besucher bewegt sich durch eine schattenhafte Rekonstruktion der Villa Ekely, die Munch 1916 am Rande der Stadt erwarb und bis zu seinem Tod bewohnte.

Da kann es passieren, dass auf einem Sekretär plötzlich ein Telefon klingelt und am anderen Ende der Leitung der Direktor des städtischen Museums wahlweise auf Norwegisch oder Englisch erklärt, dass es gar nicht mehr lange bis zur nächsten Ausstellung des Künstlers dauern würde. Er solle doch mal bei nächster Gelegenheit vorbeikommen.

Das Munch-Museum hat viele Säle und Geschosse zu füllen. Deshalb öffnet es sich Künstlern, für die der Norweger eine wichtige Rolle spielt. Den Anfang macht die Britin Tracy Emin, die expressiv malt wie er, die Liebe und das Leiden daran schonungslos offenbart. Bei einem Oslo-Besuch filmte Emin die Bucht und schrie aus voller Brust dazu. Endlich. Das dürfte jetzt öfter zu hören sein.