Lucerne Festival: Menschliche Sehnsucht nach dem Paradies
Dort, wo Touristen in der Luzerner Altstadt unermüdlich Selfies schießen, erstreckte sich vor 20 Millionen Jahren das Urmeer Tethys. An subtropischen Stränden suchten Flamingos nach Nahrung, versteinerte Überreste von Palmwedeln und Muscheln sind im Naturdenkmal Gletschergarten zu sehen. Diese ferne Welt erscheint uns heute als verlorener Garten Eden. Denn die exotische Landschaft verschwand irgendwann unter einer dicken Schicht aus Eis.
Um die menschliche Sehnsucht nach dem Paradies, das letztlich eine Utopie bleibt, kreist in diesem Sommer auch das Programm des Lucerne Festivals. Gleich zur Eröffnung erklang die monumentale Dritte Sinfonie von Mahler, die nichts weniger als eine Vertonung der Schöpfungsgeschichte sein soll. Am Pult des Festivalorchesters stand Paavo Järvi, der kurzfristig den erkrankten Chefdirigenten Riccardo Chailly ersetzte.
Blockartige Gegensätze
Järvi, der das Werk vor zwei Jahren mit seinem Zürcher Tonhalle-Orchester zur Wiedereröffnung des historischen Konzerthauses am See aufgeführt hatte, hielt die Zügel recht straff. Im zerklüfteten Kopfsatz, zu dem sich Mahler vom Höllengebirge am Attersee in Oberösterreich inspirieren ließ, erstand hier auf wuchtige Weise eine schroffe Urwelt. Järvi arbeitete die gewaltigen Gegensätze blockartig heraus, was den inneren Fluss der Musik teils etwas stocken ließ. Wie sehr ihm Mahlers Spiel mit kontrastierenden Rhythmen und verfremdeten Harmonien liegt, zeigte sich auch im zweiten Satz, Tempo di Menuetto, und im grotesken Scherzo.
Nach den Pflanzen und Tieren betritt in der Sinfonie der Mensch die Szene. Das eindrückliche Solo der Altistin Wiebke Lehmkuhl schwebte in einem geheimnisvollen Dunkel. Mahlers Vertonung des Nietzsche-Gedichts „O Mensch! Gib Acht!“ offenbart eine schmerzvolle Zerrissenheit. Im heiteren Wunderhorn-Lied „Es sungen drei Engel“ verkörperte Lehmkuhl dann den um Vergebung bittenden Sünder Petrus, die Chorpassagen übernahmen die bewährten Damen des Chors des Bayerischen Rundfunks und die Sängerknaben der Luzerner Kantorei.
Luzern und Abbado
Völlig eins mit dem Dirigenten wirken die Musiker spätestens im langsamen Schlusssatz, der das Göttliche zelebriert und in einer Vision ewiger Liebe gipfelt. Für das Lucerne Festival Orchestra, das in diesem Jahr sein 20-jähriges Bestehen feiert, sind die Mahler-Sinfonien eng mit der Erinnerung an den 2014 verstorbenen Gründer und Mentor Claudio Abbado verbunden. Die Dritte von Mahler führten sie gemeinsam im Sommer 2007 auf. Unter Abbados Leitung hatten zahlreiche Musiker bereits im Jugendorchester der Europäischen Union und im Gustav Mahler Jugendorchester gespielt. Manche kamen danach in das Mahler Chamber Orchestra, das von Anfang an die Basis des Festival-Klangkörpers bildet.
Von den hervorragenden Solisten und Kammermusikern sind etliche schon seit der ersten Stunde in Luzern dabei. Einer von ihnen ist der Solobratscher Wolfram Christ, der früher bei den Berliner Philharmonikern spielte. Bei der Enthüllung einer Berliner Gedenktafel zu Abbados 90. Geburtstag hatte er im Juni eine bewegende Ansprache gehalten. Claudio Abbado sei mit großem Abstand die zentrale Figur gewesen, er habe das Orchester künstlerisch geformt und geeint, sagte Christ in einem Interview. „Ich habe bis heute das Gefühl, dass Mahler ein Herzenskomponist von Claudio war. Er konnte alle Emotionen in dieser Musik nachvollziehen.“
Christ wirkte auch an dem Luzerner Gedenkkonzert für den Dirigenten im Frühjahr 2014 mit. Andris Nelsons dirigierte damals den Finalsatz aus Mahlers Dritter. Viele Musiker wurden von ihren Gefühlen überwältigt und brachen zum Schluss auf offener Bühne in Tränen aus. Zu den Solisten, die den Klang dieses Orchesters seit Jahren prägen, zählen außerdem der Flötist Jacques Zoon, der – inzwischen auch als Dirigent etablierte – Oboist Lucas Macías Navarro oder der Trompeter Reinhold Friedrich. Am Konzertmeisterpult saß wieder Gregory Ahss, der in gleicher Funktion bei der Camerata Salzburg spielt.
Die Pianistin Maria João Pires begeisterte das Publikum am zweiten Abend mit einer nuancenreichen Interpretation von Mozarts Klavierkonzert „Jenamy“. Pires, die vor einigen Jahren eigentlich ihren Rückzug aus dem Tourneeleben verkündet hatte, ist inzwischen wieder mit Orchestern auf der Bühne zu erleben. Zum Andenken an Abbado spielte sie als Zugabe das berühmte Andante aus Mozarts brillantem Konzert Nr. 21 in C-Dur.
Brahms‘ Vierte Sinfonie wurde dann zu einer veritablen Sternstunde. Vom ersten Ton an erschienen Järvi und das Orchester als perfekt aufeinander eingespieltes Team, nach dem fulminanten Schlusssatz brach stürmischer Applaus aus. Dass Kammermusik die Keimzelle dieses Orchesters ist, zeigte sich nochmals in einem Matinee-Konzert mit Werken von Dvořak, Debussy und Ravel. Höhepunkt war Schönbergs Streichsextett „Verklärte Nacht“, an dem sich auch die Geigerin Johanna Pichlmair von den Berliner Philharmonikern beteiligte.