Kolumne „Spiegelstrich“: Sehen, was ist

Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des MDR in Leipzig. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter @Brinkbaeumer.

Kann es sein, dass wir zwei Krisen unterschätzen? Dass wir sie falsch deuten, indem wir sie zwar wahrnehmen und debattieren, sie aber nicht fundamental gefährlich finden für die Welt, Europa, uns? Wenn das stimmt: Warum ist das so? Wladimir Putin hat in zwei Reden am vergangenen Freitag gewütet wie der Despot eines Schurkenstaats, hat den Westen „satanisch“ genannt und mit dem Einsatz von Nuklearwaffen gedroht und dabei die weltweit definierten, still akzeptierten Regeln für den Einsatz von Nuklearwaffen verändert.

Bislang war klar: nur zur Selbstverteidigung im äußersten Notfall. Jetzt sagt Putin: nein, auch in einem Territorialkonflikt, auch dann also, wenn der Gegner versucht, vier durch ihn, Putin, annektierte Regionen zurückzuerkämpfen. Alles an diesen Reden war düster, die Fakten sind es ohnehin. Seit dem 24. Februar sterben Tausende Unschuldige im Krieg vor unserer Haustür, und zuvor schon hat Putin in Tschetschenien, Georgien, Syrien und seit 2014 ebendort, in der Ukraine, Krieg geführt, um kühle und wahnhafte Ziele zu erreichen.

Verstehen wir tatsächlich, wie nahe all das ist und wie existenziell? Was, wenn die Ukraine in den kommenden Wochen versucht, ihr Land zu halten und zurückzuerobern (was sie tun wird)? Was, wenn Putin dies als Angriff auf Russland verstehen wird (was er angekündigt hat)? Fiona Hill, britisch-amerikanische Russlandkennerin, sagt, wir seien im dritten Weltkrieg, seit 2014 schon, und würden es leugnen oder nicht sehen.

„Diese Krise ist sehr viel dringlicher, als wir sie abbilden.“

Wieso? Ostdeutsche, so erklärt es Matthias Platzeck, blickten womöglich anders als Westdeutsche auf den Konflikt, weil Russland ihnen vertraut sei. Es gab Schulaustausch, Besuche, und es gibt eine gemeinsame Geschichte, in welcher die Bedrohung aus dem Westen kam. Und die AfD und manche Linke scheinen sich in autoritären Sehnsüchten zu ähneln. Und für CDU und SPD ist es peinlich, Deutschland in eine exklusive Abhängigkeit von Moskau geführt zu haben. Je grausamer der Krieg, desto peinlicher.

Die zweite Krise, jene des Hurrikans über Florida, der Waldbrände in der Sächsischen Schweiz, des steigenden Meeresspiegels und der schmelzenden Gletscher, ist zweifelsfrei existent, aber komplex, schleichend. „Diese Krise ist sehr viel dringlicher, als wir sie abbilden“, sagte Sara Schurmann am Samstag bei der Tagung des Netzwerks Recherche in Hamburg.

Ich saß dort auf dem Podium, wollte mit Kolleginnen und Kollegen über Krisen und Journalismus reden, als die Neurowissenschaftlerin Maren Urner die Diskussion kaperte und jene Klima-Journalistin Sara Schurmann auf die Bühne holte. „Entschuldigung“, sagten beide, es müsse aber sein, denn schon die Sprache, mit welcher der erhitzte Planet thematisiert werde, erreiche das Publikum nicht: Sie sei repetitiv, also ermüdend, und bürokratisiert.

Maren Urner war bereits zu Gast in dieser Kolumne. In Hamburg sagte sie, so arbeite unser Hirn, leider auch das journalistische: Es verändere sich durch alles, was wir tun, erfahren und denken, und es schiebe weg, was unseren scheinbar stabilen Alltag und unseren Lebensstandard gefährde. Es konzentriere sich lieber auf Eiliges, leicht zu Lösendes und finde ganz wunderbare Gründe, dieses Verhalten für rational zu halten.

„Wir haben längst global die klimatische Stabilität verlassen, die unsere Zivilisation ermöglicht hat“, sagte Urner. Und dann: „Was kann es eigentlich Relevanteres geben als das Überleben der Menschheit auf diesem Planeten, also das gute Leben der Menschen auf diesem Planeten?“

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