Gekommen, um zu bleiben: SC Magdeburg schreibt Handball-Geschichte
Der Magdeburger Gisli Kristjansson kämpfte gar nicht mehr gegen die Tränen an. Nach Abpfiff brach einfach alles aus ihm raus, war klar, dass all die Opfer, die er an diesem Wochenende, in den vergangenen Monaten und überhaupt in den letzten Jahren gebracht hatte, nicht umsonst gewesen waren. „Das lässt sich nicht in Worten fassen“, sagte der Isländer nach dem 30:29-Sieg des SC Magdeburg über KS Kielce und damit dem Triumph in der Champions League am Sonntagabend. „Ich konnte eigentlich nicht spielen, ich konnte nicht trainieren. Und ich habe es trotzdem gemacht. Gerade tut alles weh. Aber das ist egal.“
Nach mehreren Schulterverletzung, anderen Blessuren und einer Schulterluxuation im Halbfinale am Tag zuvor hatte er sich letztlich seinen Traum erfüllt, schrieb der 23-Jährige mit seinem Verein Geschichte und steht dabei wie kaum ein anderer für den Erfolg des SCM. Mit seiner Spielart, seiner Leidensfähigkeit und seinem unbändigen Einsatz sorgte er dafür, dass die Elbestädter nach 21 Jahren erneut in der Königsklasse siegten – und das, obwohl sie als Außenseiter in das Finalwochenende gestartet waren. Verdient wurde er letztlich zum wertvollsten Spieler des Turniers gekürt.
In solchen historischen Momenten werden allseits gerne die Statistiken herausgekramt. Dass Magdeburg erst der zweite deutsche Klub nach dem THW Kiel ist, der zweimal das Champions League gewonnen hat, steht da beispielsweise. Dass Bennet Wiegert erst der zweite Deutsche überhaupt ist, dem es gelang, die Trophäe als Trainer und als Spieler zu gewinnen. Dass es die Magdeburger wie schon 2002 schafften, nach der gewonnenen Meisterschaft auch den Triumph in der Königsklasse zu feiern.
Das alles sind Fakten, die zeigen, wie der Klub, der damals als erster deutscher Verein die Königsklasse gewinnen konnte, in den vergangenen Jahren wieder zurück zu alter Stärke gefunden hat. Denn als Bennet Wiegert 2015 Trainer wurde, sah das alles noch ganz anders aus. Da hatte sich der Verein gerade aus einer ausgewachsenen finanziellen Krise herausgearbeitet und bewegte sich im sportlichen Mittelmaß.
Vom Mittelmaß zur Weltklasse
Der gebürtige Magdeburger schaffte es allerdings, mit den wenigen Mitteln, die er zur Verfügung hatte, vielversprechende Spieler an die Elbe zu holen. Dabei setzte er nicht mehr auf den traditionellen Ansatz, dass Handballer groß und gewichtig sein müssen, sondern baute eine Spielphilosophie um kleine, wendige Spieler mit hoher Zweikampfstärke auf. Mit Durchbrüchen statt blinder Wurfgewalt, mit Beweglichkeit statt blockhafter Gegenwehr.
Nach einem schnellen Erfolg im DHB-Pokal dauerte es allerdings, bis sich der große Wurf abzeichnete. Wiegerts Idee wurde als „Zwergenhandball“ verrufen und seine Person in Frage gestellt. Mittlerweile ist aber klar: Der Plan ging auf. Mit dem Europapokal, dem zweifachen Titel im IHF Super Globe 2021 und der Deutsche Meisterschaft in der vergangenen Saison, hat der 41-Jährige seine Kritiker widerlegt und mit der Champions League dem Ganzen noch die sprichwörtlich Kirsche auf das Sahnehäubchen aufgesetzt.
Als Klub mit dem kleinsten Etat unter den vier am Finalwochenende angetretenen Mannschaften, der in dieser Saison zahlreiche Ausfälle von Leistungsträgern hinnehmen musste, gelang der Weg bis ganz oben – weil die taktische Einstellung stimmte, die Wiegert seinen Spielern mitgab, aber auch, weil das Team im Kollektiv funktionierte und jegliche Rückschläge wegsteckte.
„Die Seele des SCM“
„Das ist die Seele des SCM“, sagte Rückraumspieler Michael Damgaard bereits nach dem 40:39-Erfolg nach Siebennmeterwerfen gegen den FC Barcelona im Halbfinale zu Tränen gerührt. Der Däne war es, der da war, als andere im Rückraum ausfielen. Der Verantwortung übernahm. So wie neben ihm Kay Smits, Marko Bezjak und so viele andere, die an dieser Stelle aufgezählt werden könnten. Und sie alle belohnten sich an diesem Wochenende für ihr ungebändigtes Engagement.
Dabei stand das Spiel kurz vor einem Abbruch, hatte Coach Wiegert nach dem Zusammenbruch eines polnischen Pressevertreters, der letztlich im Krankenhaus verstarb, angeboten, die Begegnung zu beenden und den derzeitigen Rückstand hinzunehmen. Kielce lehnte allerdings ab, nach einer dreizehn-minütige Unterbrechung wurde das Spiel fortgestzt, Magdeburg gewann. „Es war richtig, das Spiel zu unterbrechen. Unser Kapitän Christian O’Sullivan hat zu uns gesagt, dass jetzt sportlich die besten zwölf Minuten unseres Lebens kommen. Und daran haben wir uns festgehalten“, erklärte Kristjannson im Anschluss.
Dass der tragische Vorfall die Feierstimmung schmälerte, war in den Gesprächen nach dem Spiel in der Kölner Arena durchaus zu spüren. Und trotzdem: Der SCM hat am Sonntagabend etwas Großes geleistet. Und das werden Kristjansson, Wiegert und Co. entgegen all der Umstände zu feiern wissen.