Die Texte des Jahres, 1. Teil
Unter den neuen Wörtern, die seit 2021 im Duden stehen, Coronawörtern wie Piks und Long Covid, Wörtern unserer Zeit wie woke oder trans, findet sich mein Wort des Jahres: boostern. Es ist selten, dass ein englisches Wort so schnell zu einem allgegenwärtigen deutschen Verb wird: to boost heißt ankurbeln, stärken; das Substantiv boost ist ein Schub und der amerikanische booster daher Antreiber oder Antreiberin – und allemal präsenter, prägender als der Wellenbrecher, das offizielle Wort des Jahres.
Aus Wörtern werden, wenn sie zusammenspielen, Worte, und aus Worten wird Text – welcher Text war der klügste, der feinfühligste, der beste im langen Krisenjahr 2021?
Nach dem Essay des Jahres habe ich dieselben Kolleginnen und Kollegen gefragt, die Angela Merkel zur Rednerin des Jahres gekürt haben, und herausgekommen ist eine Leseliste jenes so vergangenen wie seltsamen Jahres (der Begriff „Essay“ übrigens ist weit gefasst und meint auch Reportagen, jedenfalls die von gedanklicher Kraft getragenen).
Die Dreistigkeit der Autokraten
Meine Siegerinnen sind zwei Autorinnen jenseits des Atlantiks, weil sie Text für Text die zwei wesentlichen Themen unserer Zeit durchdringen, Anne Applebaum die Krise der Demokratie und Elizabeth Kolbert die Klimakatastrophe. Im „Atlantic“ schrieb Applebaum über Dreistigkeit und Perfidie der Autokraten: „The Bad Guys Are Winning“; im „New Yorker“ rekonstruierte Kolbert, wie die USA 1992 jene Klimakonferenz scheitern ließen, auf welcher die Welt beinahe eine andere Richtung gewählt hätte.
Markus Feldenkirchen hat Antonia Baums „Erregungswellen“ aus dem „Merkur“ ausgewählt: „Der beste Text zu dem Thema des Jahres: Identitätspolitik und die ritualisierten Empörungswellen der Gegenwart“; und „Die Pflicht ruft“ von Andreas Reckwitz aus der „Zeit“: „Ein toller Text über das Phänomen, dass Linke und Progressive einst für Freiheit und gegen staatliche Regeln kämpften – und nun eher fürs Gegenteil.“
Hannah Suppa, Chefredakteurin der „Leipziger Volkszeitung“, preist den Essay „Den Osten verschweigt heute keiner mehr“ von Martin Machowecz in der „Zeit“: verfasst, so die Kollegin Suppa, „zu seinem Abschied aus dem ‚Osten’ – da hat er nochmal komplett Ostdeutschland seziert, sehr spannend, gut geschrieben“.
Mensch Merkel
Ute Brucker nennt „Zerstörung der Wahrheit“ von Jonathan Rauch aus dem „Spiegel“, einen Text über Cancel Culture und die Kunst der Diskussion. Meine Kolumnistinnenkollegin Hatice Akyün lässt Bernd Ulrichs „Zeit“-Text „Kann man an der Macht ein guter Mensch sein?“ siegen: „Zum ersten Mal konnte ich dem Mensch Angela Merkel näher kommen. Etwas, das sie 16 Jahre zu vermeiden versucht hat.“
Und meine MDR-Kollegin Kristin Schwietzer hat eine eigene Rangliste erstellt. Auf Rang 1: „Wenn ich einen trinken gegangen wäre, dann am liebsten mit ihr“, von Alexander Osang im „Spiegel“ über Angela Merkel geschrieben, „unterhaltsam und anrührend zugleich“, so Schwietzer. Deren Platz 2 geht an Hasnain Kazims „Es gibt keine guten Taliban“, erschienen auf „Zeit Online“: „Mein Handy ist voll mit Nummern von Menschen, die von den Taliban umgebracht wurden. Es ist ein digitaler Friedhof. Ich bringe es nicht übers Herz, diese Nummern zu löschen“, schreibt Kazim. Und ihr Platz 3: Clemens Meyers Essay „Wozu Literatur?“ Schwietzer sagt: „Ein Ritt über Berge, Seen und Täler, durch Jahrhunderte über tausende Schicksale und faszinierende Geschichten hinweg. Ein Essay, der sich am Ende seines neuen Buches ‚Stäube’ versteckt.“ Jener Meyer sei „ein im wahrsten Sinne der Wortes Ver-rückter, der Hemingway des Ostens“.
(Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des MDR in Leipzig. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter @Brinkbaeumer.)