Das japanische Schuldrama „Die Unschuld“: Von Monstern und Freunden
Beim Gespräch mit der Schuldirektorin platzt Saori der Kragen. Ihr Sohn wurde gemobbt, mit Schimpfwörtern wie „Schweinehirn“ beleidigt und vom Lehrer geschlagen, aber die Direktorin verneigt sich immer nur und betet Floskeln herunter. „Wir nehmen Ihre Bedenken ernst und werden unsere Anweisungen in Zukunft angemessen formulieren.“
Auch hätten sich Hand und Nase von Lehrer Hori (Eita Nagayama) und Schüler Minato (Soya Kurokawa) nur berührt. Herr Hori entschuldigt sich, aber es bleibt ebenfalls eine Formalität. Irgendwann geht Saori (Sakura Andō) auf die Direktorin los.
Schauplatz ist eine Grundschule in der japanischen Präfektur Nagano. Saori sorgt sich um ihr verstörtes Kind. Sie arbeitet in einer Reinigung, hat es nicht leicht als junge, alleinstehende Mutter und Witwe. Regisseur Hirokazu Kore-eda, seit „Shoplifters“ (2018) international gefeiert als Meister von dysfunktionalen Familiengeschichten und sorgsam beobachtenden Sozialdramen über die Vernachlässigten und Vergessenen der japanischen Gesellschaft, ist für „Die Unschuld“ in seine Heimat zurückgekehrt, nach filmischen Ausflügen nach Frankreich („La Verité“, mit Catherine Deneuve und Juliette Binoche) und Südkorea („Broker“).
Erstmals seit seinem Regiedebüt schrieb er das Drehbuch nicht selbst, sondern inszenierte ein Skript von Yūji Sakamoto – der 2023 in Cannes den Drehbuchpreis dafür erhielt.
Eine Geschichte aus drei Perspektiven
Wieder eine subtile Story, aber mit „Rashomon“-Effekt. Dreimal beginnt „Die Unschuld“ mit einem nächtlichen Hochhausbrand unweit der Wohnung von Saori und Minato. Dreimal wird die Verstörung des Jungen und der Vorfall in der Grundschule aus je anderer Perspektive gezeigt. Im zweiten Teil aus der des Lehrers, der – wie sich herausstellt – zu Unrecht der Misshandlung bezichtigt und kriminalisiert wird.
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Und im dritten Teil dann aus der Sicht des Jungen, der sich mit dem kleinen Yori (Hinata Hiiragi) anfreundet, dem seinerseits wegen eines alkoholsüchtigen Vaters gemobbten Außenseiter der Klasse. Auch der Grund für das ungerührte Verhalten der sichtlich depressiven Direktorin erhellt sich schließlich.
Der japanische Originaltitel „Kaibutsu“ („Monster“) zitiert ein Kinderspiel. Du klebst dir einen Zettel mit einem Namen auf die Stirn und der andere rät deine Identität. „Wer ist das Monster?“ Die Lehrer, die Eltern, die Kinder? Und wer bin ich selbst, was ist meine Wahrheit zwischen all den Zuschreibungen und Erwartungen der anderen, den Mutmaßungen, Verdächtigungen, Gerüchten und Versuchen von Verständnis und Anteilnahme?
Wie können sich vor allem die Kinder in der Welt der Erwachsenen behaupten, zumal in Japan mit seiner oft gnadenlosen Tradition der Gesichtswahrung? Wer von der Norm abweicht und sich bloßgestellt sieht, muss Ausgrenzung fürchten. Minato und Yori, die beiden Jungs, schaffen sich in einem verlassenen Eisenbahnwaggon ein Refugium für ihre heimliche Freundschaft: eine Gegenwelt, in der Zärtlichkeit aufkeimt und bunte Bälle an Fäden baumeln. Kleine Himmelskörper in einem besseren Universum, das am Ende von einem Taifun heimgesucht wird.
Unweigerlich sieht sich die Zuschauerin in das Verwirrspiel um die changierenden Wahrnehmungen einbezogen. Was genau erkenne ich eigentlich, wie deute ich die Szenen, was ist bloß Projektion? Mehr als in den letzten Filmen von Hirokazu Kore-eda bleibt vieles in der Schwebe, schon in die Geräusche des Filmbeginns mit prasselndem Feuer mischt sich ein feines Sirren. Am Ende lässt sich erahnen, wer den Hochhausbrand gelegt hat, aber die Wirklichkeit bleibt vielstimmig, steckt voller feiner, komplizierter Dissonanzen: Der fragmentarische Soundtrack des 2023 verstorbenen Komponisten Ryūichi Sakamoto trägt zu dieser Anmutung bei.
Auch die Kamera (Ryûto Kondô) hält sich zurück. Sie wahrt Respekt vor den Figuren, entreißt ihnen nicht ihr Geheimnis. Dass der Film in Cannes auch den Queer-Preis gewann, macht die Beziehung von Minato und Yori fast schon zu eindeutig.
Die wilden Wiesen rund um den Waggon der Jungs sind sonnenbeschienen, die nüchterne Ästhetik des Schulalltags weicht einer lichten Utopie: Einmal mehr rettet Hirokazu Kore-eda die Menschlichkeit. Und er verteidigt die Möglichkeit vieler Identitäten, abseits der Norm. „Wenn das Glück nicht für alle zu haben ist“, sagt ausgerechnet die Direktorin einmal zu Minato, „dann ist es kein Glück.“