Navid Kermanis neuer Roman „Das Alphabet bis S“: Göttliches durch die Literatur
Es gibt zum Glück noch Menschen, deren Herzfrequenz vor Freude steigt wenn sie ein Porträtfoto von Flaubert auf dem Schreibtisch ihrer Vorgesetzten entdecken. Oder wenn sie bei Freunden fast alle Bücher von Virginia Woolf im Regal erblicken. Oder, wie im Fall der Erzählerin von Navid Kermanis neuem Roman „Das Alphabet bis S“, sie nach dem Teekochen von Uwe Johnson angeschaut werden: „mit Glatze, Pfeife und Lesebrille nicht eben ein Beau, aber immerhin.“
All die ungelesenen Bücher
Wer Kermanis Bücher kennt, seine literarischen, als „Romane“ ausgewiesenen, weiß, dass der 1967 in Siegen geborene Orientalist, religionswissenschaftliche Publizist und mitunter brillante Reporter nur zu gern seine eigenen Lektüren schreibend fortsetzt. Literatur entsteht, eine Binse, immer aus anderer Literatur – nur dass Kermani das offensichtlicher als andere macht.
Um ungelesene Bücher, die doch bitte schön gelesen werden sollen, geht es. Die namenlose Erzählerin hat ihre Bibliothek wegen einschneidender biografischer Veränderungen neu geordnet; als „Lesschreiberin“ bezeichnet sie sich ganz Kermani-gemäß, „es gibt kein passenderes Wort“. Alphabetisch stehen die Bücher nun im Regal, und so will sie lesen: von A bis Z, zunächst Peter Altenberg, dann Attila Bartis (aus einer Eile heraus wegen seines guten Aussehens), desweiteren Emil Cioran und Emily Dickinson, schließlich Thomas Melle, Ovid, Joachim Ringelnatz und Nelly Sachs. Danach ist Schluss, warum auch immer (selbst wenn auch Paul Valéry irgendwann auftaucht.)
Tagebuch ohne Datum
Das ist das Ordnungsprinzip dieses knapp sechshundert Seiten dicken Romans. Es hat etwas Beruhigendes. Denn zu Beginn heißt es auch: „Das Tagebuch ohne Datum, das ich mir vorgestellt habe, soll nicht um mich gehen, soll mich gar nicht erwähnen. Es soll ausschließlich notieren, was zwei Augen sehen, die zugegeben nun einmal meine eigenen sind, oder zwei Ohren hören.“
Obwohl es 365 Einträge gibt und vier Kapitel, die mit den Jahreszeiten überschrieben sind, erinnert „Das Alphabet mit S“ an Kermanis doppelt so dickes, 2011 erschienenes Buch „Dein Name“. In diesem steht absatz- und kapitellos alles drin, was Kermani seinerzeit wichtig erschien, sei es die Geschichte des Irans im 20. Jahrhundert, sei es Nachrufe auf ihm wichtige Persönlichkeiten (zum Beispiel auf den Soziologen Karl Otto Hondrich), sei es Erörterungen von Liebes- und Sexdingen oder des Werkes von Neil Young. Eine überbordende, betont strukturlose Auto- Meta- und Dokufiktion.
Anders als darin ist Kermani nun allerdings in eine weibliche Erzählrolle geschlüpft. Die Eltern der Erzählerin stammen wie seine eigenen aus dem Iran, sie ist wie er eine renommierte, erfolgreiche Roman- und Sachbuchautorin, einmal wird sie hier sogar von jemand als Außenministerin vorgeschlagen (Kermani wurde dereinst als Bundespräsident gehandelt). Diese Frau muss einige Schicksalsschläge einstecken: Ihre Mutter ist gestorben, ihr Mann hat sich von ihr getrennt, ihr Sohn ringt wegen eines kardiovaskulären Geschehens mit dem Tod.
All das erzählt sie in ihrem Tagebuch, im Grunde so, wie es ihr gerade einfällt, wie sie in Form ist. Nicht immer funktioniert das, deswegen ist das mäandernde Schreiben in diesem Roman Gesetz. Seine Voraussetzung: Ausnahmslos hat Wert, kann notiert werden: von dem verunglückten Begräbnis der Mutter über die Problematik mit den Radarfallen bis hin zu Fußball und Tischtennis. Kermanis Erzählerin ist überzeugt davon, dass jedem Menschen täglich etwas widerfährt, „das wichtig ist, wichtig nicht nur für ihn selbst“.
Wie in „Dein Name“ steht in diesem Roman, vielleicht etwas konzentrierter, Bedeutendes neben Unbedeutendem, Alltägliches neben wiederum nicht so Alltäglichem, weil von der Literatur abgeleiteten, das Religiöse, die Fragen nach der Bedeutung von Liebe, Tod und dem Göttlichen neben der Waschmaschine, der Teeküche und dem Rasen des Kölner Stadtparks.
Was jedoch schwer ersichtlich wird: Warum Kermani eine Frau zur Erzählerin seines Romantagebuchsessays gemacht hat. Das mag ein schöner identitätspolitischer Move sein. Kermani bemüht sich um einen weiblichen Diskurs, auch vor dem iranischen Hintergrund. Hier die Verinnerlichung männlicher Werte, dort die Sorge einer Mutter um ihr Kind, die alles andere unwichtig erscheinen lässt.
Nizon, Nadás, Green, Jünger
Man muss nicht die familiären Hintergründe des Schriftstellers kennen und wie sehr der Roman dieses Jahres, das im übrigen nie genannt wird (2017 oder 2018, Thomas Melles vielzitierter Roman „Die Welt im Rücken“ erschien 2016), auf Ereignissen in Kermanis Leben beruht. Es sind vielmehr die Gedanken und Reflexionen zur Literatur, zur Religion oder zum Weltgeschehen, die einen so direkt zu dem realen Autor Navid Kermani führen.
Der wiederum arbeitet eine Literaturliste ab, die bis auf Dickinson, Helene Hegemann (und Rachel Cusk) eine sehr männliche und disparate ist. Unter anderen neben Melles Buch über seine bipolare Erkrankung Ernst Jüngers „Stahlgewitter“, die Tagebücher von Julien Green, Peter Nadás Memoirs „Aufleuchtende Details“, „Parallelgeschichten“ und „Der eigene Tod“ oder die Journale von Paul Nizon.
Die weibliche Perspektive
Wie sehr sich eine Frau aus den zehner Jahren des 21. Jahrhunderts in dieser Literatur wiederfinden kann (und mancher Mann…), sei einmal dahingestellt. Diese Autoren scheinen allesamt bevorzugt Kermanis Gewährsleute zu sein, Autoren, die aus ihrem Leben Fiktion gemacht, die ihr Leben der Literatur eingeschrieben haben.
Das ist auch die Ambition von Kermani. Er versucht sich mit seinem Journal aus einer weiblichen, weil mutmaßlich moderneren Perspektive auf die Augenhöhe eines Nadás oder Nizons zu bringen, diese durchaus bewundernd, bei aller Distanz gerade zu letzterem („am ätzendsten der Typ Mann, der von Frauen als ,Geschenk an die Menschheit’ schwärmt“). Bei Jünger ist es der kalte Blick, der der Reporterin so gefällt, bei Green die weise Einsamkeit und Selbstgerechtigkeit des Alters.
Natürlich kennzeichnet die Eitelkeit von Paul Nizon auch die Literatur Kermanis, am Ende zählt seine Erzählerin ihre „Regalmeter“. Man hat schon den Eindruck einer Anmaßung. Aber die ist nunmal literaturimmanent. „Das Alphabet bis S.“ feiert die Literatur, trägt kulturreligiöse Züge, ist aber stets um Erkenntnis, um Lebenshilfe bemüht.
Über die Schwäche, die Bücher zu sehr zu lieben, schreibt Julien Green 1947. „Aber ich glaube“, zitiert ihn Kermani, „dass Gott uns so nimmt, wie wir sind, und wenn wir die Bücher lieben, dann findet er in ihnen das Mittel, zu uns zu sprechen, in den schlechten übrigens wie in den guten.“
Navid Kermani hat weder das eine noch das andere geschrieben – aber darum geht es in der Literatur eben nicht immer. Sondern dass sie zu ihrem Publikum spricht. Phasenweise tut das dieser Roman.