Brockhampton verabschiedet sich mit zwei Alben: Emotionale Hip-Hop-Achterbahnfahrt
Sieben Alben in fünf Jahren zu produzieren, ist selbst für sehr ambitionierte Musiker ein Kunststück. 13 Jungs aus San Marcos, Texas, haben das unter dem Namen Brockhampton geschafft – und sich damit ihr eigenes Denkmal gesetzt.
Die nur drei Wochen vorher angekündigte Platte „The Family“ sollte das vorerst letzte Statement der Hip-Hop-Gruppe sein, die sich selbst als „beste Boyband seit One Direction“ bezeichnet. Doch Brockhampton hatten noch weiteres Eisen im Feuer.
Schon bevor „The Family“ ungewöhnlicherweise am vergangenen Donnerstag erschien (der einheitliche Releasetag in der Musikbranche ist Freitag um 00:01 Uhr Ortszeit), brodelte auf Reddit die Gerüchteküche. Geleakte Songcredits verrieten, dass Frontmann Kevin Abstract Hauptautor aller Stücke ist.
Auch bei den zwei Singleauskopplungen „Big Pussy“ und „The Ending“ handelte es sich quasi um Abstract-Solotracks. Ein Tabubruch für die Band, die für ihren Round-Robin-Stil berühmt ist, bei dem auf fast jedem Song Rapeinlagen mehrerer Mitglieder zu hören sind. Um das weitere Drama einordnen zu können, lohnt sich ein kurzer Rückblick in die Bandgeschichte.
Der Aufstieg von Brockhampton vollzog sich ebenso kometenhaft wie sein Niedergang. 2010 veröffentlichte der damals 14-jährige Abstract in einem Onlineforum für Kanye-West-Fans einen Beitrag, um nach Mitgliedern für eine Band zu suchen. Eine EP mit vier Songs, „irgendwas Richtung 70er und Jimi Hendrix“ war das Ziel.
Mit der anfangs noch 30-köpfigen Crew fand man sich letztlich im Hip-Hop wieder. Nach und nach verkleinerte sich die Gruppe auf 13 Mitglieder, von denen sieben auch selbst rappen. Die übrigen sechs sind unter anderem mit der Albumproduktion, Videodrehs oder der Webpräsenz des Kollektivs beschäftigt.
Damit der gesamte Output der Band nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch komplett unter einem Dach vereint war, zogen die damals noch 15 Hip-Hop-Jünger 2016 aus Texas in ein gemeinsames Haus in Los Angeles.
Der riskante Move sollte sich auszahlen, denn schon kurz darauf begann die produktivste Schaffensperiode der Clique, die sich stets als eine große Familie sah. Nicht weniger als fünf Alben produzierten Brockhampton in den nächsten drei Jahren in ihrer „Factory“.
Die sogenannte „Saturation“-Trilogie erschien 2017 und entpuppte sich als ambivalente Angelegenheit: Zwar gelang der Band mit den Alben der Durchbruch. Aber gleichzeitig begann eine Krise, als Ko-Frontmann Ameer Vann sexueller Missbrauch vorgeworfen wurde und er kurz danach von der Gruppe ausgeschlossen wurde.
Doch Brockhampton überstanden diese Phase, entwickelte sich unentwegt weiter und erreichte mit dem Post-Vann-Album „Irisdescence“ 2018 sogar Platz 1 in den Billboard-Charts. Mit „Ginger“ (2019) und „Roadrunner: New Light, New Machine“ (2021) folgten zwei Platten, die bei vielen Hörern eher gemischte Gefühle hervorriefen.
Kreative Differenzen, aufblühende Solokarrieren und nicht zuletzt auch der Wunsch der Fans nach einer Rückkehr zum „Saturation“-Stil brachten die 13 Bandmitglieder dazu, im Januar ihre „Auszeit auf unbestimmte Zeit“ zu verkünden.
Doch vorher sollte es noch ein wenig Musik geben. Nun also „The Family“, das sich wie befürchtet als Quasi-Solo-Album von Kevin Abstract entpuppt. Dass die 35 halbherzig produzierten Minuten voller Chipmunk-Chöre im Stile von Kanye Wests Höchstzeiten dem Anlass nicht ganz angemessen wären, wusste aber wohl auch Abstract.
Pünktlich zum Albumrelease wurde ein Promoposter veröffentlicht, das ein Überraschungsalbum mit dem Titel „TM“ für den Folgetag versprach. Inspirieren ließ sich Abstract dabei von Frank Ocean. Der veröffentlichte 2016 erst „Endless“, um seine Vertragspflichten zu erfüllen, und einen Tag später das jetzt schon legendäre „Blonde“.
An Oceans geniale Auswüchse reicht zwar leider keine der beiden Platten, aber zusammengenommen ist dennoch einiges dabei, was man gut und gerne hören kann. Von „The Family“ bleiben vor allem die beiden Singles in Erinnerung. In „Big Pussy“ folgt auf ein chaotisches Free-Jazz-Intro eine hämmernde Bassline, die nur noch von Kevin Abstracts bombastisch-aggressiven Versen übertroffen wird.
Ziel seiner Tiraden sind die Fans und das Label RCA, das mindestens 35 Minuten Musik gefordert hatte. Das Album lieg nun 24 Sekunden drüber. „The Ending“ wirkt als vorletztes Stück wie ein melancholischer Abgesang, den Abstract über ein perfekt eingepflegtes Soul-Sample lallt.
Dass „TM“ Brockhamptons „echtes“ Abschlussalbum ist, erkennen Fans schon an der Optik. Im Gegensatz zu „The Family“ sind hier alle Songtitel wie gehabt in Versalien geschrieben. Auch im Schlussspurt beweisen die Texaner noch einmal ihre Vielseitigkeit.
Das Album besteht aus elf Tracks aus der Pandemiezeit, die teilweise wenig und teilweise komplett umgearbeitet wurden. „New Shoes“ versprüht dabei am stärksten den Geist von 2017, der Song strotzt nur so von juveniler Energie. In Double-Time zeigen Kevin, Matt, Merlyn, Jabari und Dom, dass die Boyband genau so gut ihr Comeback haben könnte.
„Keep It Southern“ ist mit knapp zwei Minuten der wohl komprimierteste Top-Hit auf dem Album. Neben einigen von Abstracts besten Lines kommt erneut sein exzentrischer Bandkollege Merlyn Wood zu Wort und knockt mit seinen Boxmetaphern auch die letzten Zweifler aus. Im Refrain von „Man On The Moon“ ist es wieder Abstract, der in gewohnt chamäleonartiger Versatilität fast schon einen Dance-Track schafft.
Die zweite Hälfte des Albums ist leider etwas weniger energiegeladen und überzeugt erst gegen Ende noch einmal durch die emotionale Wucht des nahenden Abschieds. Mit „Goodbye“ heißt es dann wirklich für die Jungs aus den Woodlands. Joba und Matt Champion erinnern über die „beste Zeit ihres Lebens“.
Danach übernimmt ein letztes Sample: Die verzerrte Stimme der kürzlich verstorbene Q Lazzarus setzt zu ihrem größten Hit aus den 80ern an. Durch ihre Huldigung spricht sie auch Brockhamptons letzte Worte: „Goodbye horses, I’m flying over you.“
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