Kritikerliebling aus dem Dschungel: Mit dem Marsupilami auf Platz 1

Erst hat er den frankobelgischen Comic-Helden Spirou nach Ost-Berlin in die Zeit kurz vor dem Mauerfall verpflanzt. Dann ließ er auch noch das Marsupilami seinen palumbianischen Urwald gegen den Berliner Großstadtdschungel der späten 1930er Jahre eintauschen, woran der Naturforscher Alexander von Humboldt großen Anteil hat. Jetzt ist Flix‘ Album „Das Humboldt-Tier“ von 30 Comic-Journalistinnen und -Journalisten zum besten Comic des aktuellen Quartals gewählt worden.

Wie der Berliner Comicautor die Zeitebene von Humboldts großen Forschungsreisen mit der über 100 Jahre später angesiedelten Endphase der Weimarer Republik elegant verknüpft, zeigt seine ganze Meisterschaft. Spirou und das Marsupilami entstammen dem gleichen Comic-Kosmos des belgischen Dupuis-Verlags und hatten früher kaum Berührungspunkte mit Deutschland – oder wenn, dann solche, die in die düsteren Zeiten von Diktatur und Unterdrückung verweisen. Auch Flix scheut sich nicht, diese Thematik aufzugreifen, meistert die Aufgabe aber ausdrücklich aus einem deutschen Blickwinkel.

Veröffentlichungen wie diese haben in den vergangenen Jahren zu einer Renaissance frankobelgischer Comic-Alben im deutschen Buchhandel geführt. Als Bestseller dominierten lange Zeit die Mangas, hip waren die Superhelden-Comics zu den Marvel-Filmen und als avantgardistisch galten inzwischen die Graphic Novels, also längere, in sich abgeschlossene Comics im Buchformat.

Doch dann drehte sich der Wind für die Alben – insbesondere durch die neuen „Asterix“-Bände, aber auch innovative Neuinterpretationen klassischer Figuren. Beteiligt an dieser Entwicklung waren auch deutsche Comic-Künstler wie Mawil oder Ralf König mit ihren Lucky-Luke-Interpretationen. Geboren war ein neuer Trend, der sich immer mehr etablierte und gleichermaßen bei Lesern wie auch Kritiker Anklang fand. Ein Kunststück, das im deutschen Buchmarkt nicht oft zu beobachten ist.

Die weiteren Favoriten der Jury

Die weiteren Top-Titel der Kritikerjury, die alle drei Monate ihre Favoriten wählt und der auch mehrere Tagesspiegel-Autorinnen und -Autoren angehören: Lewis Trondheim mit seiner hinreißenden „Asterix“-Parodie „Die neuen Abenteuer von Herrn Hase 6: Beim Teutates!“, der abermals platzierte argentinische (Anti-)Kriegs-Comic „Ernie Pike“ der großen Comic-Meister Héctor Germán Oesterheld und Hugo Pratt, Anja Wickis Comic „In Ordnung“ über die psychische Erkrankung einer Frau (Tagesspiegel-Rezension folgt in Kürze), der Manga „Boys Run the Riot“ von Keito Gaku über den Kampf eines trans Jungen um ein erfülltes Leben (Rezension folgt ebenfalls), Hamed Eshrats autobiografisches Buch „Coming of H“ über seine Jugend in der Provinz und die iranischen Wurzeln seiner Familie, Anna Rakhmanko und Mikkel Sommers dokumentarische Graphic Novel „Hinterhof“ über eine Domina, Marijpols Porträt „Hort“ über eine Wohngemeinschaft dreier sehr außergewöhnlicher Frauen (Rezension folgt), der vierte Sammelband „Die Katze des Rabbiners“ von Joann Sfar über die Welt der sephardischen Juden in Algerien zu Beginn des letzten Jahrhunderts und das Gemeinschaftswerk „Aber ich lebe“, in dem Zeitzeugen, Comicschaffende und Wissenschaftler vom Überleben im Holocaust erzählen.

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