Harry Styles Festival am Lido
Die zweite Venedig-Woche beginnt standesgemäß als Harry-Styles-Festival. Schon der Weg zum Frühstücks-Espresso in der Strandbar ist gesäumt von jungen Mädchen mit bunten Plakaten, sie haben noch einen langen Tag vor sich. Aber was sind schon acht Stunden Warterei in brütender Hitze gegen einen kurzen Blick auf den größten lebenden Popstar, mindestens?
Selbst wenn der mit seiner Freundin Olivia Wilde über den roten Teppich läuft, die praktischerweise auch seine Regisseurin ist. Auf „Don’t Worry Darling“ warten sie in Venedig aber nicht nur wegen seines männlichen Stars, auch Wilde wird seit ihrem Regie-Debüt, der cleveren Teenie-Komödie „Booksmart“, in Hollywood hoch gehandelt.
Nicht minder wichtig war natürlich die Frage, wie Styles auf die Style-Vorlage von Timothée Chalamets reagieren würde, der die Modewelt am Donnerstag mit seinem blutroten rückenfreien Drapage-Overall von Haider Ackermann in Verzückung versetzte – und außerdem die Fans mit seiner Rolle als liebeshungriger Kannibale in „Bones and All“ einigermaßen verstörte. Styles nahm die Herausforderung nicht an. Über den roten Teppich lief er nicht gehüllt in die Bolero-Romantik seines Lieblingsdesigners Arturo Obegeror, sondern in einem navyblauen Gucci-Anzug mit oversized Revers, verspielt classy. Abgesehen davon macht Styles auch in „Don’t Worry Darling“ als jüngster Emporkömmling einer Kohorte von adretten Vorstadtmännern mit ihren Trophäenfrauen (unter anderem die Regisseurin selbst) eine gute Figur.
Sozialsatire hinter pastellfarbener 1950er-Fassade
Die wie immer fabelhafte Florence Pugh spielt seine Ehefrau, die den Verdacht hat, dass hinter der pastellfarbenen 1950er-Fassade etwas nicht mit rechten Dingen zugeht – beziehungsweise hinter den Absperrungen, die die kleine Gemeinde von der Außenwelt abschirmen, vielleicht doch die Freiheit wartet. Wildes Film wird sicher keine Originalitätspreise gewinnen, dafür ist das „Stepford Wives“-Motiv feministisch und als Sozialsatire nicht mehr auf der Höhe der Zeit.
Aber die Selbstverständlichkeit, mit der Wilde jetzt einen Film mit diesen Produktionswerten (in denen sie öfters auch zu ausgiebig schwelgt) inszeniert, verdient größten Respekt. Bisher ist in Venedig der Hang zur positiven Selbstüberschätzung ja eine rein männliche Tugend – siehe Alejandro González Iñárritu oder Darren Aronofsky. Und Harry Styles? Der vollzieht am Schluss von „Don’t Worry Darling“ noch eine Wandlung ins Abgründige, die sich nicht hinter Timothée Chalamets blutverschmierter Kannibalen-Performance zu verstecken braucht.
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Ebenfalls eine Utopie – oder doch eine Dystopie? Bei guter Science Fiction verlaufen die Grenzen da fließend – erzählt Studentenoscar-Gewinner Alex Schaad in seinem Langdebüt „Aus meiner Haut“, dem einzigen deutschen Film auf dem Lido in der „Woche der Kritik“. Edgar Selge spielt eine Art Guru, der ein Selbsterkennungs-Retreat betreibt, zu dessen Angeboten auch der Körpertausch gehört.
Leyla (Mala Emde) und Tristan (Jonas Dassler) kommen mit emotionalem Ballast auf die Insel. Sie weiß, worauf sie sich einlässt; er muss erst lernen, dass man in der Haut eines anderen – oder einer anderen – ebenso glücklich werden kann. Auch Schaad, der mit Bruder Dimitrij („Die Känguru-Chroniken“) das Drehbuch geschrieben hat, verhebt sich etwas an seinem Thema, aber man ist ja schon froh, wenn ein deutscher Film überhaupt um Originalität bemüht ist. Zwar bleiben die inneren Konflikte, die durch den Körpertausch – in verschiedensten Konstellationen – an die Oberfläche gebracht werden, nur skizzenhaft. Aber das mysteriöse „Midsommar“-Setting ist durchaus reizvoll. Der Lido ist für Alex Schaad eine gute Bühne.