Konstruierte Willkür

Man könnte bei der Lektüre dieses neuen Romans von Norbert Gstrein auf den Gedanken kommen, es hier mit dem ersten ultimativen Corona-Roman in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zu tun zu haben.

Denn Gstrein erwähnt die Pandemie immer wieder, streift sie, bettet sie und die Maßnahmen dagegen wie nebenbei in sein Setting ein, quasi lebensecht, so wie das Virus nun einmal in den letzten zweieinhalb Jahren das Leben der allermeisten Menschen mitbestimmt hat.

Es werden Masken getragen, es gibt die Shut- oder Lockdowns, es fragen sich die drei Hauptfiguren des Romans, Ines, Elias, der Ich-Erzähler, und Carl, ob sie denn einmal zwischen den Jahren eine Spritztour an die Ostsee überhaupt machen dürfen wegen der Reisebeschränkungen und -verbote.

Dann ziehen sie sich wie die Figuren in Boccaccios „Decamerone“ zurück, ebenfalls kurz vor dem Jahreswechsel, tun so, als existiere die Welt um sie herum nicht mehr und erzählen sich Geschichten. Auch der Romantitel „Vier Tage, drei Nächte“ (Hanser, München 2022. 350 Seiten, 26 €.) hat mit der Pandemie zu tun.

Viel Aufwand, wenig Ertrag

Der Vater von Ines und Elias, ein österreichischer Hotelbesitzer, hält trotz aller Verbote an seiner sogenannten „Preseasons-Sause“ fest, die er immer vor den Weihnachtstagen veranstaltet. Und, ach ja, die letzten „vier Tage und drei Nächte“ im Corona-Jahr 2020 sollen es dann auch noch sein, da Ines, Elias und Carl so tun, als wären sie im Florenz des 14. Jahrhunderts.

Allerdings zeigen die Corona-Bezüge nicht mehr, als dass Norbert Gstrein die stillen Stunden der Lockdowns genutzt und schon wieder einen Roman geschrieben hat. Erst im Frühjahr 2021 war der Vorgänger von „Vier Tage und drei Nächte“ erschienen, „Der zweite Jakob“.

So man das überhaupt genau fassen kann oder möchte, geht es in diesem neuen Roman um Liebe und um Sex, um eine inzestuöse Beziehung mit einigen personellen Weiterungen: nämlich um jene von Elias und seiner Schwester Ines, die denselben Vater, aber verschiedene Mütter haben. Sie können nicht ohne einander, sie lieben sich, weil sie Geschwister sind zum einen, obwohl sie Geschwister sind zum anderen.

Das geht so weit, dass Elias einen Liebhaber von Ines übernimmt, Moritz, oder sie später durchaus gern mit Carl flirtet, dem Lover von Elias, die Eifersuchtsgedankenspiele seinerseits womöglich mitbedenkend.
Wie man das von ihm kennt, betreibt Gstrein viel Aufwand, um sein passagenweise an ein Kammerspiel erinnerndes Setting einen üppig biografisch-stofflichen Rahmen zu geben: Sie ist Literaturwissenschaftlerin, er Flugbegleiter.

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Beide haben zu ihrem Vater eine problematische Beziehung. Dieser ist ein egoistisch-zupackender, autoritärer Charakter, ein misogyner, übergriffiger Typ. Es gibt ein drittes uneheliches Kind von ihm, es gibt für Elias Therapiestunden, und es gibt zwei weitere Liebhaber von Ines, die für Aufregung sorgen: ein „schockverliebter Schriftsteller“ und vor allem ein gewisser Ulrich, der für Ines seine Familie verlassen will und ihr nachstellt, nachdem sie ihn, wie die anderen, übelst zurückgewiesen hat.

Aufwand betreibt Gstrein wie üblich auch sprachlich mit seinen vielen langen, mitunter mäandernden, mitunter raunend-bedeutungshuberischen Sätzen, mit vielen Konjunktiven und Passivkonstruktionen, mit einem Augenmerk noch für entfernteste Nebenfiguren.

Doch wohin die Romanreise hingehen soll, wird selten klar, vieles bleibt in der Schwebe. Wollte Gstrein mit „Vier Tage, drei Nächte“ wirklich einen Inzestroman schreiben? Geht es ihm wirklich um Fragen der Identität, darum, ob es sowas wie „Identität“ überhaupt gibt oder sie im Gegenteil nicht einen Großteil aller zwischenmenschlichen Übel ausmacht?

Was dieser Schriftsteller perfekt beherrscht: zu suggerieren, dass die Reise wohin gehen soll, dass nicht alles in der Schwebe bleibt. Das macht immerhin die Spannung dieses Romans aus. Also verstreut Gstrein seine Zeichen.

Drei Nächte, drei Arten, Dreiecksbeziehungen

Einer der von Ines vor den Kopf gestoßenen Liebhaber, Ulrich, beginnt, ausfällig zu werden und Carl zu beleidigen. Er glaubt, dass Elias’ Freund der neue von Ines ist, „Affe“ nennt er ihn unter anderem. Und also bekommt auch Carl nach und nach seine Lebensgeschichte. Unter anderem gehört dazu die Aufklärung, warum er eigentlich Carl heißt, mit großem C, und nicht Karl. Denn er und sein Großvater waren seinerzeit, also 1993, beim Besuch eines Leichtathletikfestivals, überaus begeistert von dem amerikanischen Sprinter und Weitspringer Carl Lewis.

Alles läuft, klar, auf das Schlusskapitel hinaus, „Drei Arten, ein Rassist zu sein“ überschrieben.

Vorbereitet wird es durch drei Geschichten, die sich Ines, Elias und Carl in ihrer Corona-Abgeschottetheit erzählen – und getriggert durch den Roman, den Ines plötzlich schreiben will, eine Dreiecksgeschichte, die auf „katastrophale Weise“ scheitert: „Ein Professorenpaar, das sich auf der sicheren Seite wähnt“, erläutert sie ihrem Bruder den Inhalt. „Der Mann, der dazukommt ist schwarz und wird von mir von Anfang an als Schwarzer benannt, und es passiert exakt das, was nicht passieren darf und von dem sie auch immer geglaubt hatten, dass es gar nicht passieren kann.“

Norbert Gstrein doppelt hier auf einer weiteren fiktiven Ebene seine Personenkonstellation. Nur: Warum tut er das? Worauf will er verweisen? Auf den Rassismus der anderen? Auf den irgendwann bei jedem oder jeder zu Tage tretenden Rassismus? Es ist seltsam tricky, was er hier macht.

“Wir könnten Romanfiguren sein”

Denn nun erschließen sich die Hinweise bezüglich Carls, die der Erklärung eigentlich nicht bedurften. Zu dieser Rückbezüglichkeit kommt, dass der Diskurs, den er hier meint führen zu müssen, auch ihn selbst in ein Zwielicht rückt. „Vier Tage, drei Nächte“ kippt so thematisch komplett weg, nach den Liebes- und Inzest-Irrungen kommen anbindungslos Homophobie- und Rassismusdiskurse, ohne dass Norbert Gstrein diese ausführen oder sich gar zu ihnen zu verhalten würde. Ideologische Festlegungen sind ihm ein Gräuel, was man ja nur begrüßen kann.

Aber der lax-spielerische, keiner Notwendigkeit gehorchende Umgang damit ist ärgerlich. Als Romanautor kann man sich ja stets mit Sätzen wie jenen aus der Affäre ziehen, die Elias am Ende sagt, als er sich vorstellt, „wir könnten Romanfiguren sein, und wenn unser Schöpfer uns schon in eine solche Ausweglosigkeit getrieben hatte, wie ich sie empfand, würde ihm womöglich einfallen, den ganzen Schlamassel mit einem Akt drastischer Willkür zu Ende gehen zu lassen.“

Willkür darf man Gstrein attestieren, auch was den Aufbau und die wenig zwingende, kaum als solche zu bezeichnende Dramaturgie betrifft. Wenn man schon keinen großen dramatischen Liebesroman nach Art des 19. Jahrhunderts mehr schreiben kann, müssen halt wenigstens in anbiedernder Weise zeitgenössische Diskurse mit dabei sein.

Bei „Vier Tage, drei Nächte“ ist alles Konstruktion und Provokation, und das ist am Ende für einen guten Roman zu wenig. Das drastische Finale, soviel sei verraten, hat Norbert Gstrein sich geschenkt, im Grunde auch, wie es schon immer seine Art war: besser alles in einem schönen Bild, in literarischer Luft auflösen.