Vier im toten Kreis
Man ahnt recht bald bei der Lektüre dieses großartigen Romans von Damon Galgut, dass es auch mit Anton kein gutes Ende nehmen, er sterben wird. Vier große Kapitel hat „Das Versprechen“, der Roman, mit dem der südafrikanische Schriftsteller vergangenes Jahr den Booker Prize gewonnen hat.
Jedes davon ist einem oder einer Toten gewidmet: erst Ma, dann Pa, dann ihre Tochter Astrid, ja, und schließlich kommt Anton dran, der einzige Sohn, auch wenn er, so wie Astrid, zu Beginn des Kapitels noch lebt.
Es gibt ein weiteres Kind dieser weißen südafrikanischen Familie, die auf einem großzügigen Farmgrundstück in der Nähe von Pretoria lebt: Das ist Amor, die jüngste Tochter, sie ist zu Beginn des Romans 13 Jahre alt. Amor überlebt sie alle, vermutlich ist das der Grund dafür, dass sie ohne eigenes Kapitel bleibt.
Amor findet in den Hinterlassenschaften ihres Bruders einen Roman, an dem dieser ständig gearbeitet hat, ohne ihn zu Ende zu bringen. „Eine Familiensaga oder ein Familienroman?“, lautet eine Randnotiz in seinem Skript, in dem es vorwiegend um Antons Leben und Familie geht.
Die Politik ist hier eine subtile Taktgeberin
Auch „Das Versprechen“ ist ein klassischer Familienroman. (Aus dem Englischen von Thomas Mohr. Luchterhand Literaturverlag, München 2021.366 Seiten, 24 €.)
Damon Galgut erzählt ihn vor dem Hintergrund der südafrikanischen Geschichte der letzten dreißig, vierzig Jahre. Er beginnt mit dem Tod von Rachel Swart, die im Alter von 40 Jahren einem Krebsleiden erliegt, kurz vor dem Ende der Apartheid im Jahr 1986.
Danach geht es Kapitel für Kapitel um jeweils ein Jahrzehnt weiter: 1995 stirbt Pa, Herman Albertus Swart, genannt Manie, gut ein Jahr nach den ersten demokratischen Wahlen in Südafrika im Frühjahr 1994. Als neun Jahre später Astrid, die ältere Tochter, nach einer Gewalttat ums Leben kommt, ist Nelson Mandela der Landesvater, buchstäblich: „Jetzt ist sein Gesicht überall, onkelhaft, gütig, streng, aber versöhnlich, oder es strahlt auf uns alle herab wie der Weihnachtsmann, wie jetzt.“
Und es endet mit der Ägide von Jacob Zuma, Südafrikas Präsident von 2009 bis 2018. Antons Witwe Desirée sieht ihn bei seinem Rücktritt im Fernsehen: „Ein kurzes Statement, dann verlässt er die Bühne. Cheerio, hasta la vista und auf Nimmerwiedersehen! Nachdem er uns jahrelang als Geiseln gehalten hat, macht er Schluss und nimmt seinen Hut. Live, in diesem Augenblick! Einfach so! O Gott, ist das zu fassen!“
Damon Galgut wurde 1965 in Pretoria geboren
Tatsächlich schwingt die Politik hier immer mit, am Rand, als Hintergrundrauschen, als subtile Taktgeberin für die Swarts, die sehr mit sich selbst und ihren vielfältigen Zerrüttungen beschäftigt sind. Das titelgebende Versprechen hat ebenfalls seinen politischen Gehalt, gerade in der Zeit, in der es gegeben wurde, genauso wie die Jahrzehnte danach: Die Swarts haben, ihrem Stand gemäß, zumal während der Apartheid, eine schwarze Haushälterin, Salome. Sie wohnt mit ihrem Sohn in einem Haus auf dem Farmgelände.
Das im Grunde sehr baufällige Häuschen soll ihr nun von Rechts wegen überschrieben werden, dieses Versprechen nimmt die sterbende Rachel Swart ihrem Mann ab. Zeugin des kurzen Gesprächs ihrer Eltern ist die 13-jährige Amor. Manie denkt jedoch nicht daran, sich daran zu halten, und so wandert das Versprechen als Leitmotiv durch den Roman, ohne im Zentrum der vier großen Kapitel zu stehen.
Man fragt sich überhaupt, wer das Zentrum des Romans ist – und landet bei Amor, der einzigen Familienüberlebenden, die ein enges Verhältnis zu Salome entwickelt. Amor ist von früh an eine Überlebende. Im Alter von sechs Jahren hat sie ein Blitz getroffen.
Der macht sie einerseits zu etwas Besonderem, einer Art Seherin, einer durch Galguts Roman geradezu schwebenden, trotzdem sehr selbstständigen Person. Andererseits begleitet der Blitz sie unentwegt, „ganz nahe und immer greifbar, wie die Narbe an ihrem Fuß oder ihr fehlender kleiner Zeh, der jetzt zu pochen anfängt.“
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Amors Unglück erinnert an die Erfahrung, die Damon Galgut in jungen Jahren machen musste. 1965 in Pretoria geboren, erkrankte er im Alter von sechs Jahren an Krebs und verbrachte einen großen Teil seiner Kindheit und Jugend in Krankenhäusern.
Damon Galgut begann dann früh mit dem Schreiben und entwickelte sich in Südafrika schnell zu einem anerkannten Autor. 2003 erschien erstmals ein Roman von ihm in deutscher Übersetzung, „Der gute Doktor“, weitere folgten, ohne dass der südafrikanische Schriftsteller hierzulande einem größeren Publikum bekannt wurde.
Das sollte sich mit diesem Roman entscheidend ändern. Denn sofort entsteht eine Vertrautheit mit dieser im Grunde bürgerlichen Familie. Die Probleme der Swarts haben etwas Universelles, man fühlt sich von gar nicht so fern an Jonathan Franzens „Korrekturen“ und „Crossroads“ erinnert. In den Swarts spiegeln sich zudem die Schwierigkeiten, die Zerrissenheit des gegenwärtigen Südafrikas mit seiner komplexen Geschichte.
Was zu der Vertrautheit mit ihnen zusätzlich beiträgt, ist die Leichtigkeit, vielleicht auch: die Non-Chalance von Galguts Prosastil. Der manchmal witzig-lässige, manchmal ironische Erzähler steckt tief drin in den Köpfen seiner Figuren, ist bisweilen per Du mit ihnen, spricht sie direkt an.
Galguts Prosastil ist ein besonderer
Oder er lässt sie sich selbst ansprechen: „Hab ich dir eigentlich schon mal erzählt, ja, hast du, also halt endlich die blöde Fresse“. Dann wendet er sich wieder an die Leserinnen und Leser, wechselt vom Ich zum überpersonalen Wir oder lässt kurz aus dem Jenseits eine Stimme erklingen.
Am auffälligsten sind die Sprünge von einer Figur zur anderen, die sind oft überraschend, abrupt: Kaum hat man verstanden, dass Amor der Frau von Anton, Desirée, im Hinblick auf den Familiennachlass ein Angebot macht, schon spricht eine andere Person zu Amor und fragt diese nach den Vorteilen für sie. Es ist dies die Anwältin der Familie.
Das verwirrt manchmal, stört aber nie, gerade weil Damon Galgut seine Figuren so vertrauensvoll nahe heranzoomt, und seien es Nebenfiguren wie einen Obdachlosen, Desirées Meditationstrainer oder einen Bestatter. Wenn es überhaupt etwas an diesem Roman zu kritisieren gilt, dann ist das eine strukturelle Vorhersehbarkeit, nicht nur was die (zwar durchaus unterschiedlichen) Tode der vermeintlichen Hauptfiguren anbetrifft.
Immer wieder trifft sich die Familie auf Beerdigungen
Auf jeden Todesfall folgt eine Beerdigung, auf jede Beerdigung folgt eine Trauerfeier, und eine jede Trauerfeier findet unter jeweils anderen religiösen Aspekten statt: Bei Rachel ist es eine jüdische, sie war Jahre vor ihrem Tod zu ihrem Ursprungsglauben zurückgekehrt.
Ihr Mann wird unter die Erde gebracht von einem geldgierigen „Pastoor“, der irgendwann „mit seinem spirituellen/kapitalistischen Projekt eine Ecke der Farm besetzt“. Astrid bekommt eine katholische Bestattung, und bei Anton geht es schließlich weitestgehend formlos zu, zumal er der Einzige ist, der verbrannt wird.
Gottes Werk und Teufels Beitrag: Dass die jeweiligen Religionen ihr Scherflein zum Untergang der Familie beitragen, versteht sich.
Was sich ebenfalls kapitelweise wiederholt: die Testamentseröffnung, die Treffen zu den Familienanlässen. Und, klar, die Anreise Amors aus ihrem Familienexil in Durban, wo sie als Krankenschwester alles Leid dieser Welt auf sich zu nehmen versucht.
Die Wucht und Last der Geschichte
Und nicht nur das: Amor nimmt bei den wenigen Besuchen in ihrem Elternhaus stets aufs Neue die Gelegenheit wahr, an das Versprechen zu erinnern, insbesondere ihren Bruder Anton. Dieser hat die Farm übernommen und denkt wie der Vater nicht daran, den Auftrag der toten Mutter zu erfüllen.
Es versteht sich, dass Amor am Ende, nach Antons Tod, die Chance nutzt und alles Nötige veranlasst, nicht ohne selbst in dieser Erbangelegenheit großen Verzicht zu üben.
Doch was nützt ein spät eingehaltenes Versprechen, die Besitzurkunde für ein Haus, wenn die Jahrzehnte ins Land gegangen sind und Salome eigene Überlegungen für den Rest ihres Lebens angestellt hat? Zudem erheben Menschen Anspruch auf den Grund und Boden, auf dem das Haus steht, die vor langer Zeit von dort gewaltsam vertrieben wurden.
Die Geschichte Südafrikas, sie schlägt hier ein weiteres Mal mit voller Wucht zu. Auch das Ende der Apartheid war ein Versprechen, das sich nur sehr unvollständig eingelöst hat. Wahre Gerechtigkeit hat es auf diesem Planeten und erst recht hier im Süden des afrikanischen Kontinents nie gegeben.