Ein Kino wie von Zauberhand
In seiner Freizeit bastelt der 14-jährige Mohammad Collagen aus Bildern, die er im Fotostudio, wo er niedere Arbeiten verrichten muss, aufliest. In den Porträts der Schönen und Reichen kulminiert die Sehnsucht nach einer Welt, die für den Jungen unerreichbar erscheint. Dass er manchmal auf dem Fußboden des Studios schlafen muss, ist seine Realität; doch wenn er in seinem etwas zu großen Anzug, die Schuhe blank poliert, mit forschen Schritten die Straßen eines besseren Teheraner Viertels entlangläuft, wird er zu einem Menschen aus seinen Bildcollagen.
Dem älteren Mädchen, das er dort jeden Tag sieht, wirft er lässige Blicke zu. Doch er bleibt in dieser Welt fehl am Platz, es reicht nicht mal für eine Arbeit bei den Eltern seines Schwarms. In einer knappen Stunde vollzieht Abbas Kiarostamis Kurzfilmdebüt „The Experience“ von 1973 eine erstaunliche Wandlung vom Coming-of-Age- zum Liebesfilm – und endet als bittersüßes Sozialdrama.
Im Westen beginnt der Kanon des 2016 verstorbenen Kiarostami erst Anfang der neunziger Jahre mit „Close-up“. Das Frühwerk des iranischen Regisseurs, einer der Schlüsselfiguren des globalen Arthousekinos (gleich neben Satyajit Ray und Ousmane Sembène), ist hingegen aufgrund mangelnder Verfügbarkeit nach der 79er-Revolution in Vergessenheit geraten.
Auch „Close-up“ aus dem Jahr 1990 handelt von einem Spiel mit der Realität, einer Täuschung aus Bewunderung. Der arbeitslose Kinofan Sabazian gibt sich für den Regisseur Mohsen Makhmalbaf aus, unter dem Vorwand von Dreharbeiten bekommt er Zutritt in das Haus einer reichen Familie. Der Betrug fliegt auf, es kommt zum Gerichtsprozess. Kiarostami hat diese wahre Geschichte mit den Beteiligten nachinszeniert.
1997 erhielt Kiarostami die Goldene Palme
Spätestens die Goldenen Palme für „Der Geschmack der Kirsche“ etablierte Kiarostami 1997 als einen Fixpunkt auf internationalen Filmfestivals. Nach seinem Tod wurde sein Werk, mit besonderem Augenmerk auf die frühen Filme, aufwendig restauriert, seinen größten Fan hat Kiarostami im unermüdlichen Martin Scorsese. Inzwischen ist dieses einzigartige Œuvre einer breiten Öffentlichkeit nahezu vollständig zugänglich – bereit, wiederentdeckt zu werden.
Unter dem Titel „Und das Leben geht weiter“, entliehen einem kleinen, aber wegweisenden Film aus der Übergangsphase in Kiarostamis Werk, zeigt das Arsenal im Oktober eine umfassende Retrospektive. „Und das Leben geht weiter“ entstand 1992, zwischen seinen post-revolutionären Filmen aus den Achtzigern und dem internationalen Durchbruch – als seine Ästhetik aus dokumentarischer Offenheit und poetischer Überhöhung stilbildend für das iranische Gegenwartskino wurde.
Kiarostami war tatsächlich ein Dichter. Über seine Arbeitsweise sagte er einmal, dass er das Kino nicht poetisch machen wolle, er verstehe das Kino selbst als Poesie. Auch darum lag ihm die Arbeit mit Laiendarstellerinnen und -darstellern, insbesondere Kindern. Keiner von Kiarostamis Filmen basiert auf einer literarischen Vorlage: „Das einzige, was mich inspiriert, einen Film zu drehen, ist das Leben“, lautete sein Credo. „Die Filme sind nicht von mir gemacht, sie machen sie selbst.“
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Das Kino als Ort der Bildung
„Und das Leben geht weiter“ ist das Mittelstück einer Trilogie, eine Brücke in Kiarostamis Schaffen. Der erste Teil „Wo ist das Haus meines Freundes“ stellt eine direkte Verbindung in seine vorrevolutionäre Phase dar, als er in Teheran das „Institut für die intellektuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen“ gründete. Das Kino spielte für Kiarostami hierbei eine wesentliche Rolle, kaum ein Film zeigt das so schön wie „Wo ist das Haus meines Freundes“.
Ein versehentlich eingestecktes Hausaufgabenheft verschlägt den kleinen Ahmed auf eine Odyssee durch die nordirakische Provinz um Rudbar, die drei Jahre später von einem schweren Erdbeben erschüttert werden sollte. Gelingt es ihm nicht, seinen Mitschüler zu finden, droht diesem ein Schulverweis. Die Ernsthaftigkeit des Jungen auf seiner Mission prallt dabei immer wieder auf die Ignoranz der Erwachsenen.
In „Und das Leben geht weiter“ begibt sich ein Filmemacher, Kiarostamis Alter Ego, kurz nach dem verheerenden Erdbeben zurück an den Drehort, auf die Suche nach seinen ehemaligen Kinderdarstellern. In dritten Teil „Quer durch den Olivenhain“ (1994) treibt er das Spiel von Dokumentation und Fiktion dann auf die Spitze: Kiarostami re-inszeniert die Dreharbeiten am Vorgänger, sein Interesse gilt nun jedoch den Erwachsenen.
Doch gerade seine „Kinderfilme“ lassen einen verstehen, was Kiarostami meint, wenn er sagte, dass er im Kino an einer gesellschaftlichen Wahrhaftigkeit interessiert sei. Ali in „A Wedding Suit“ (1976) oder der zehnjährige Ghassem, der sich in „The Traveller“ (1974) das Geld für die Eintrittskarte eines Fußballspiels ergaunert, sind Helden auf einem Abenteuerparcours. Das Programm „Großes Kino, kleines Kino“ am 10. Oktober zeigt Kiarostami von einer fast vergessenen Seite: den Pädagogen, der die Sorgen seiner jungen Darsteller ernst nimmt. (Bis zum 31. Oktober im Kino Arsenal, ab 14. Oktober auch auf www.lacinetek.com)