Das grüne Leuchten

Den kalten Nächten sei Dank: Der Frühling zieht sein grünes Kleid dieses Jahr in Zeitlupe über das Land. So ausführlich konnte man den schiebenden Knospen an Büschen und Bäumen in der Stadt lange nicht mehr beim Entfalten zusehen. Das ging die letzten Jahre sonst immer ruckzuck, plötzlich Hitze, alles grün und bald schon wieder traurig schlapp. Diesmal dauert sie lange an, die Freude übers zarte Grün, das so filigran und vielgestaltig ist. So unschuldig und lebensprall. Noch ahnen die jungen Triebe ja nichts vom Staub des Lebens, der sich schon in wenigen Wochen unerbittlich auf ihnen absetzt.

Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühn

Grün ist die Hoffnung, nicht nur die Theorie! Vom grünen Tisch und grüner Politik mal ganz zu schweigen. Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühn. Greensleeves, was all my joy. Der ist ja noch grün hinter den Ohren. Grün bekommt, wer Blau und Gelb mischt. Grün, die Farbe Irlands, des Islam, des Osterfests. „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche / Durch des Frühlings holden, belebenden Blick, / Im Tale grünet Hoffnungs-Glück“, dichtet Goethe 1808 im Osterspaziergang des „Faust“. Zu seiner Zeit erblühte der Frühling deutlich später als in der erderwärmten Gegenwart.

[Behalten Sie den Überblick über alle wichtigen Entwicklungen in Ihrer Nachbarschaft. In unseren Tagesspiegel-Bezirksnewslettern berichten wir über die Krise und die Auswirkungen auf Ihre Nachbarschaft. Kostenlos und kompakt: leute.tagesspiegel.de.]

Trotzdem kommt einem die Chlorophyll-erfüllte Natur gerade jetzt, in sorgenvollen Zeiten, wie ein Versprechen vor. Der Farbwechsel gleicht einem ästhetisches Schauspiel, das nicht nur Augen- sondern auch Seelentrost ist. Weil es sich so stoisch und unbeeindruckt vom destruktiven Treiben der Menschheit vollzieht. Die Kräfte der Natur sind einfach größer, ein beruhigender Gedanke.

Grün kommt aus dem Althochdeutschen, wo es „wachsen, sprießen, gedeihen“ bedeutete. Ein wahrhaft erstaunliches Geschehen, dass Nicht-Biologen in jedem Frühjahr erneut Fragezeichen in die Augen treibt. So wie dem frühromantischen Dichter Novalis, der in seinem lebensnahen Poem „Es färbte sich die Wiese grün“ schreibt: „Es färbte sich die Wiese grün, / Und um die Hecken sah ich blühn, / Tagtäglich neue Kräuter, / Mild war die Luft, der Himmel heiter. / Ich wusste nicht, wie mir geschah, / Und wie das wurde, was ich sah.“ Wenn das nicht eine perfekte Zustandsbeschreibung vom Frühlingsgrün berauschter Großstädterinnen ist.